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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Rührung. »War es etwas Böses?«
    Ein Blinzeln.
    »War es wie ... ein Gespenst?«
    Zwei Blinzeln. Nein.
    Mike erwiderte ihren Blick. Zwischen den Antworten blinzelte sie überhaupt nicht. Es war, als würde er eine Leiche befragen.
    Mike schüttelte den Kopf, um diesen verräterischen Gedanken zu vertreiben.
    »War es... war es der Tod?«
    Ein Blinzeln. Ja.
    Als sie ihm geantwortet und die Augen geschlossen hatte, beugte Mike sich über sie und vergewisserte sich, daß sie noch atmete, dann strich er ihr wieder mit der Handfläche über die Wange. »Schon gut, Memo«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich bin da. Heute nacht kommt er nicht zurück. Schlaf.«
    Er saß neben ihr, bis ihr abgehacktes, gequältes Atmen ruhiger und langsamer zu werden schien. Dann holte er Großpapas Sessel, zog ihn dicht ans Bett - obwohl der Schaukelstuhl viel leichter zu bewegen gewesen wäre, wollte er Großpapas Sessel -, setzte sich hinein, hielt den Baseballschläger auf der Schulter und hielt zwischen Memo und dem Fenster Wache.
    Früher an diesem Abend machten sich einen halb Block westlich von Mikes Haus Lawrence und Dale fürs Bett fertig.
    Sie hatten um halb zehn Sea Hunt mit Lloyd Bridges angesehen - die einzige Ausnahme von der Regel, daß sie um neun ins Bett mußten - und waren dann nach oben gegangen, Dale zuerst, damit er im dunklen Zimmer nach der Lichtschnur tasten konnte. Es war schon zehn Uhr, aber der schwache Schein der Dämmerung kurz vor der Sonnenwende drang noch durch die Fenster.
    Dale und sein kleiner Bruder lagen in ihren Betten, die nur vierzig Zentimeter auseinanderstanden, und tuschelten noch ein paar Augenblicke.
    »Wieso hast du keine Angst vor der Dunkelheit?« fragte Lawrence leise. Er hatte seinen Pandabär in der Armbeuge. Den Bär, den Lawrence beharrlich Teddy nannte, obwohl Dale darauf bestand, daß es ein Panda war, kein Teddybär, hatten sie vor Jahren beim Affenrennen in Riverside Park von Chicago gewonnen, und er sah reichlich mitgenommen und abgenutzt aus: Ein Auge war lose, das linke Ohr fast abgekaut, das Fell in der Mitte schütter, wo fast sechs Jahre Umarmen es abgenutzt hatte, der schwarze Faden des Mundes teilweise gelöst, wodurch Teddy einen schiefen, verschlagenen Ausdruck bekam.
    »Angst vor der Dunkelheit?« sagte Dale. »Es ist doch gar nicht dunkel. Die Nachttischlämpchen sind an.«
    »Du weißt, was ich meine.«
    Dale wußte, was sein Bruder meinte. Und er wußte, wie schwer es für Lawrence war, seine Angst einzugestehen. Tagsüber hatte der Achtjährige vor nichts Angst. Nachts bat er normalerweise Dale, daß dieser ihm die Hand hielt, damit er einschlafen konnte. »Ich weiß nicht«, sagte Dale. »Ich bin älter. Wenn man älter ist, hat man keine Angst vor der Dunkelheit mehr.«
    Lawrence lag eine Zeitlang schweigend da. Von unten waren die Schritte ihrer Mutter zu hören, als sie von der Küche ins Eßzimmer ging. Als sie den Wohnzimmerteppich erreichte, hörten die Schritte auf. Ihr Dad war noch nicht von seiner Verkaufsreise zurück. »Aber du hast Angst gehabt«, sagte Lawrence, formulierte es aber nicht ganz wie eine Frage.
    Nicht so sehr wie du, Angsthase, war die Antwort, die Dale als erstes einfiel. Aber dies war keine Gelegenheit zu Spott. »Ja«, flüsterte er. »Ein bißchen. Manchmal.«
    »Vor der Dunkelheit?«
    »Ja.«
    »Davor, nach der Lichtschnur zu suchen?«
    »Als ich klein war, in der Wohnung von Chicago, hatte mein Zimmer - unser Zimmer - keine Lichtschnur. Es hatte einen Schalter an der Wand.«
    Lawrence hob Teddy zur Wange. »Ich wünschte, wir würden noch dort wohnen.«
    »Nee«, flüsterte Dale, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zu, wie sich die Schatten der Blätter an der Decke bewegten. »Dieses Haus ist eine millionmal schöner. Und Elm Haven ist toller als Chicago. Wir mußten in den Garfield Park zum Spielen, und es mußte immer ein Erwachsener dabeisein.«
    »Irgendwie kann ich mich daran erinnern«, sagte Lawrence, der erst vier war, als sie umgezogen waren. Seine Stimme nahm wieder den beharrlichen Tonfall an. »Aber du hast Angst vor der Dunkelheit gehabt?«
    »Ja.« Dale konnte sich nicht erinnern, daß er in ihrer Wohnung Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte, aber er wollte nicht, daß sich Lawrence wie eine Memme vorkam.
    »Und vor dem Schrank?«
    »Dort hatten wir einen richtigen Schrank«, sagte Dale. Er sah zu dem selbstgebauten Eckschrank aus gelb gestrichenem Kiefernholz.
    »Aber du hast Angst davor gehabt?«
    »Ich

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