Sommer in Maine: Roman (German Edition)
verdorben habe.«
»Du hast überhaupt nichts verdorben«, sagte er. »Der Abend ist noch jung. Wer weiß? Vielleicht gehe ich wieder rein und such mir noch ein hübsches Mädchen, das mit mir tanzen will.«
»Tu das«, sagte sie.
Er setzte ein verzerrtes Lächeln auf: »Oh nein! Ich hatte gehofft, dass dich das eifersüchtig machen würde.«
Daniel hob den Arm und winkte ihr ein Taxi herbei. Sie sah ihn an und dachte, dass es ihr ziemlich egal war, dass sie ihn vermutlich nicht wiedersehen würde. Sie wollte nur noch nach Hause. Aber gerade, als das Taxi vorfuhr, trat Mary aus dem Lokal.
Daniel hatte es nicht bemerkt, hatte die Wagentür für Alice geöffnet und stand mit der Hand auf dem Taxidach verlegen da.
»Nimm du das Taxi«, sagte sie schnell. Sie wollte vermeiden, dass er den Streit mit Mary mitbekam. »Ich nehme das nächste.«
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte er.
»Nein, wirklich. Sieh doch, da hinten kommt schon eins.«
»Bist du sicher?«, fragte er.
Alice nickte. Beim Abschied erlaubte sie ihm, sie auf die Wange zu küssen. Dann sah sie ihn ins Taxi steigen und entlang der Piedmont Street aus ihrem Blickfeld verschwinden.
Jetzt hatte Mary sie entdeckt. Alice hielt den Atem an.
»Was ist denn heute in dich gefahren?«, fragte Mary, als sie bei ihr angekommen war. »Warum bist du weggerannt?«
Alice sah sie schweigend an.
»Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang«, schlug Mary vor. »Ich muss mit dir reden.«
Alice blieb stur: »Ich bin müde. Ich will nach Hause.«
»Dann komme ich mit«, sagte Mary.
»Und was ist mit Henry? Willst du ihn hier alleine lassen?«
»Das ist schon in Ordnung, er ist ja unter Freunden«, sagte Mary. »Außerdem sehe ich ihn morgen. Aus irgendeinem Grund will er trotz der Eiseskälte unbedingt ans Meer. Wir fahren an den Strand, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben.«
Jetzt war Alice klar, warum er sie dort und nirgendwo anders um ihr Jawort bitten wollte. Und obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass sie sich für ihre Schwester freuen müsste, fühlte sie nichts.
»Ach ja, eure Freunde«, sagte Alice. »Hoffentlich haben sie nicht mitgekriegt, dass du dich mit jemandem wie mir abgibst.«
»Ach, darum geht es?«, fragte Mary. »Mensch, Alice, ich fühl mich doch selber nicht wohl unter diesen Leuten. Von denen würde mich doch keiner vorm Ertrinken retten, wenn sie sich dabei die schicken Hosen nassmachen müssten.«
Es tat Alice weh, sich ihre Schwester in dieser Gesellschaft vorzustellen.
»Du kannst nicht einfach gehen«, sagte Mary. »Es ist etwas passiert. Ich muss mit dir reden.«
»Was denn?«
»Henry zieht nach New York, und das hat er mir erst heute Abend erzählt. Naja, eigentlich ist es einem seiner Freunde beim Essen rausgerutscht. Er hat ziemlich sauer reagiert und gesagt, dass wir das morgen besprechen würden. Alice, ich hab solche Angst, dass er am Strand Schluss machen will. Mensch, ich sehe uns beide schon als ein Paar grässlicher alter Jungfern, die in alle Ewigkeit bei ihren Eltern wohnen.«
Im Lokal hatte Mary gar nicht besorgt gewirkt, aber ihre Schwester war schon immer gut darin gewesen, in Gesellschaft ihre Rolle zu spielen.
Alices Brust schnürte sich zu. Morgen früh würde sich Marys Albtraum als Missverständnis entpuppen, und sie würde alles bekommen, was Alice sich immer gewünscht hatte. Grässliche alte Jungfern , hatte sie gesagt. Sollte das Alices Schicksal sein?
Um ihre Schwester zu beruhigen, hätte sie ihr nur zuflüstern müssen, dass ihr größter Traum bald in Erfüllung gehen würde. Aber stattdessen sagte sie: »Du hättest eben nicht mit ihm ins Bett steigen sollen.«
Die Worte brachten Alice zunächst süße Befriedigung, aber dann meldete sich unverzüglich auch gleich das schlechte Gewissen.
Mary war sprachlos. Sie biss sich auf die Unterlippe und stand einfach da, bis Alice unwillkürlich fröstelte.
»Du zitterst ja«, sagte Mary. Sie griff in ihre Tasche. »Hier hast du meine Fäustlinge.«
»Ich habe selber welche«, gab Alice zurück. In diesem Augenblick fiel ihr auf, dass sie Marys Wildlederhandschuhe auf der Bar hatte liegen lassen. »Verflucht nochmal«, sagte sie ohne nachzudenken, »ich hab sie drinnen liegenlassen.«
»Welche denn?«, sagte Mary in einem Ton, aus dem klar wurde, dass sie die Antwort erahnte.
»Die grauen Wildlederhandschuhe.«
»Ach, Alice, das sind meine Lieblingshandschuhe, das weißt du doch. Ich hab lange gespart, um sie mir leisten zu können.«
Alice
Weitere Kostenlose Bücher