Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Hier fühlte man sich Teil von etwas, das wichtiger war als das eigene Selbst. Und auch falls es keinen Gott geben sollte, dann gab es doch das Meer. Es war vor uns da gewesen und würde uns überleben, und ein- und ausatmen bis in alle Ewigkeit.
Im letzten Sommer war Maggie mit Gabe hier gewesen. Jene Nacht war die dunkelste, die sie je erlebt hatte, und der Himmel war voller Sterne. Von der Bar eines Hotels war eine Jimmy-Buffett-Melodie zu ihnen herübergeweht, und sie hatten dazu getanzt, mitgesungen und gelacht. Ein Teil von ihr wünschte jetzt, sie hätte ihm diesen Ort nie gezeigt.
Als sie am Strand von Ogunquit angekommen waren, taten Alice die Knie weh, und sie beschlossen, nicht zu Fuß zurückzugehen, sondern eine der Straßenbahnen nehmen, die eifrig in der Stadt herumfuhren. Das letzte Mal hatte Maggie auf so einem Ding gesessen, als Pat und Ann Marie für die Hochzeit ihrer Tochter Patty das gesamte Tramsystem von Ogunquit gemietet hatten. Maggie dachte an Pattys Mann Josh. Er war ein netter Kerl und hatte am Hochzeitstag vor Glück gestrahlt. »Ich habe gerade meine beste Freundin und meine Traumfrau geheiratet«, hatte er erstaunt gesagt, als sie vor der Kirche ins Auto stiegen. Offenbar hatte er es selbst noch nicht ganz fassen können.
Als sie wieder beim Wagen ankamen, machte sich Maggie zum ersten Mal in drei Tagen nicht die Mühe, ihr Handy in der Hoffnung auf einen Anruf in Abwesenheit hervorzuholen.
Nach Sonnenuntergang machte Maggie einen Strandspaziergang. In der Stadt vergaß man die Sterne schnell, denn im grellen Licht der Straßen bekam man sie nur selten zu Gesicht. Aber hier glitzerten, wohin man sah, Millionen von Lichtern am Himmel. Als sie klein waren hatte ihr Großvater ihnen ausführlich die Konstellationen erklärt: Die Drei Schwestern, Das Vierblättrige Kleeblatt, der Große Wagen, Die Zöpfe der Maggie, Der Große Zeh der Fiona. Maggie konnte sich nicht erinnern, wann sie begriffen hatte, dass die Hälfte der Namen erfunden war.
Die Nachtluft war kühl, und Maggie zog sich den Pullover enger um den Körper.
Sie würde es wirklich tun, und zwar allein. Der Gedanke war zugleich beglückend und beängstigend. Maggie beschleunigte ihren Schritt und hatte schon bald den baufälligen Steg hinter sich gelassen, der über zwei Kilometer vom Haus entfernt war. War sie wirklich so weit gelaufen? Die Kelleherkinder waren selten zu dem öffentlichen Strand auf der anderen Seite der Bucht gegangen, aber jetzt lief Maggie weiter. Es war Ebbe und überall um sie herum lagen Seegrasnester voll winziger Muscheln. Sie hob eine davon auf und rieb sie zwischen den Fingern.
Vor ihr stand der Hochsitz der Rettungsschwimmer. In der Hochsaison saß hier nachmittags ein Paar gebräunter, gut gebauter einheimischer Jugendlicher in roter Badehose und rotem Badeanzug (es waren immer ein Junge und ein Mädchen, die, davon konnte man wohl ausgehen, miteinander ins Bett gingen) und unterbrachen ihr Gespräch nur ab und zu, um mit der Pfeife ein Kind zurückzurufen, das zu weit rausgeschwommen war. Als Jugendliche hatten Maggie und Patty die Rettungsschwimmer heimlich angehimmelt und waren manchmal nach dem Abendessen auf den Hochsitz geklettert und hatten schweigend über das Meer geblickt, als wären sie die beiden sexy Strandgeschöpfe mit perfekten Oberschenkeln.
Maggie ging auf den Hochsitz zu und begann, an seiner zersplitterten untersten Sprosse angekommen, den Sitz Sprosse für Sprosse zu erklimmen. Oben blies der Wind ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie lauschte den Wellen und spürte, dass ihr nichts in der Welt etwas anhaben könne, solange sie an diesen Ort heimkehren konnte.
Irgendwann wurde sie müde und dachte, dass sie zurückgehen sollte. Aber dann erinnerte sie sich an die unheimliche Stille, die nachts in dem alten Haus herrschte, und blieb noch ein bisschen länger sitzen. Seltsam, dass mit einem Ort zugleich wunderschöne und grässliche Erinnerungen verbunden sein konnten. Im Sommerhaus hatte sie die glücklichsten Momente ihrer Kindheit verbracht und auch die schönsten mit Gabe. Aber das Haus erinnerte sie auch an die schmerzhaften Monate vor der Scheidung ihrer Eltern, die Maggie damit verbracht hatte, zur Jungfrau Maria zu beten, sie möge bitte gut auf ihre Familie aufpassen.
Sie hatten im Frühling und Sommer vor der Scheidung im Sommerhaus gewohnt. Ihr eigenes Haus hatten sie verkaufen müssen.
Drei Monate lang gingen Maggie und Chris nicht zur Schule. Sie wuschen sich
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