Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Sorgen aller Art. Sein Zölibat ließ ihn gleichermaßen ungefährlich und sexuell reizvoll erscheinen und erreichte so das Gegenteil seiner Bestimmung, denn durch seine Keuschheit dachten plötzlich alle an nichts als Sex.
»Das habe ich mir gerade überlegt«, sagte sie.
»Na wie schön«, sagte Alice. »Du bleibst also! Das freut mich.«
Aus Erfahrung wusste Maggie, dass man auf der Hut sein musste, wenn Alice freundlich war: Das konnte sich schnell ändern. Aber in diesem Augenblick jedenfalls wollte Alice, dass Maggie blieb, ihre Großmutter brauchte sie vielleicht sogar.
Auf dem Heimweg blieben sie auf kleinen Nebenstraßen. Auf dem Weg aus dem Ort hinaus wurden die Häuser immer schäbiger, standen dichter beieinander und zwischendurch sah man auch mal einen zwischen zwei Bäumen geparkten Wohnwagen, der als Haus diente. Vor einem der Häuser sah Maggie einen Mann und einen Teenager am Stumpf einer alten Pinie werkeln. Es sah aus, als würden sie ein überdimensionales Eichhörnchen schnitzen.
Alice drehte sich nach ihnen um. »Ganzjährige«, sagte sie schulterzuckend .
Schließlich machten die Häuser einem von einer niedrigen Steinmauer gesäumten Wildblumenfeld Platz. Am Horizont stand ein großer roter Schuppen und ein Silo, dem das Dach fehlte. Da war im Sommer von Maggies zehntem Geburtstag der Blitz eingeschlagen.
Bald wurde die zweispurige Straße zu einem schmalen, unbefestigten Weg. Hier standen am Straßenrand statt Straßenlaternen große Pinien dicht an dicht und ließen kein Licht durch. Maggie fragte sich, ob die Einheimischen die Schönheit der Allee noch wahrnahmen, oder ob sie dagegen immun geworden waren. Die Wahrzeichen von New York waren irgendwann nur noch Hintergrund, bis man plötzlich wieder einmal aufblickte und der Anblick des Empire State Buildings einem den Atem verschlug.
Schließlich gelangten sie zu einer Kreuzung und bogen auf die Route 1 ab, beschleunigten und mischten sich unter die Autos, die in beiden Richtungen dahinrasten. Plötzlich veränderte sich alles. Die Bäume am Straßenrand verschwanden und stattdessen erschienen in der Straßenmitte zwei leuchtendgelbe Linien, die sich scharf gegen den schwarzen Asphalt absetzten. Hier kämpften seit Jahrzehnten das Malerische und das Geschmacklos-Grelle um die Vorherrschaft, und die dunkelgrüne Markise und weiße Schindelfassade des imposanten Ogunquit Theater bissen sich mit einer Reihe neonbeleuchteter Motels mit von Maschendraht umzäunten Swimmingpools im Vorgarten. Es gab einen großen Getränkemarkt, einen Laden für handgemachtes Patchwork, Flo’s Schnellimbiss und einen Trödelladen, der auf Tischen auf der Straße hunderte unterschiedliche Glasflaschen feilbot. Nachts stand eine Holzkiste am Bordsteig, auf der stand: FLASCHEN JE $2, WIR VERLASSEN UNS AUF IHRE EHRLICHKEIT.
Sie bogen noch einmal ab und erreichten wenige Minuten später die Kreuzung Perkins Cove und Shore Road.
»Lust auf einen Spaziergang in der Bucht?«, fragte Alice. »Ich möchte noch nicht nach Hause.«
Der Ort war einst ein ruhiges Fischerdorf gewesen, aber jetzt waren die Hummerfischer, die im Hafen ihre Fallen abluden, in der Minderzahl und wurden von den langen Touristenschlangen vor der altmodischen Eisdiele und den Souvenirläden mit Magneten, Kerzen und Modeschmuck abgedrängt. Maggie kaufte eine große Schachtel Sahnebonbons für Kathleen und eine Halskette aus blauem, vom Meer geschliffenem Glas für Alice.
Sie schlenderten plaudernd Richtung Marginal Way, und als sie den Küstenpfad erreicht hatten, der sich über anderthalb Kilometer an den Klippen entlangwand, sagte Alice zu dem Priester: »Früher war das hier nichts als ein Trampelpfad, auf dem die Bauern ihr Vieh trieben. Dann kaufte irgendein wohltätiger Einheimischer das Land, schenkte es der Stadt und ließ den Weg angelegen. Das Einweihungsfest fand in unserem zweiten Sommer hier statt. Da war eine Menge los.«
»Warst du dabei?«, fragte Maggie.
Alice schüttelte den Kopf: »Das klingt jetzt vielleicht albern, aber ich war an dem Tag todmüde. Irgendein Baby hatte mich nicht schlafen lassen. Aber dein Großvater war da, glaube ich.«
Als sie den Pfad betraten, verstummten sie beim Anblick der Schönheit der Natur. Zur Linken sahen sie umzäunte Villen mit großen Veranden und hölzernen Adirondack-Sesseln im Garten. Aber zu ihrer Rechten war nur der Abgrund und die Brandung, die weit unter ihnen gegen die Klippen schlug und sich bei Flut wie im Tanz wiegte.
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