Sommer in Maine: Roman (German Edition)
kaum und putzten sich selten die Zähne, aber Kathleen merkte davon nichts. Onkel Patrick und Tante Ann Marie hatten angeboten, Maggie und Chris bis zum Ende des Schuljahres bei sich unterzubringen, aber Maggie wusste, dass ihre Mutter nicht mehr mit den beiden redete, und war bei dem Vorschlag, bei Tante und Onkel zu wohnen, so ausgerastet, dass Ann Marie anscheinend Angst bekommen hatte, Maggie würde ihnen das Haus abfackeln. Dabei war es nicht so, dass Maggie nicht gerne bei ihnen gewohnt hätte. Sie hätte sich liebend gern ein Stockbett mit ihrer Cousine Patty geteilt und wäre abends zwischen das vom Trockner noch warme Blümchenbettzeug gestiegen. Sie hätte auch nichts dagegen gehabt, morgens mit dem Geruch frischer Waffeln aufzuwachen, die Ann Marie immer zum Frühstück servierte, und in der Küche ein Glas Limonade neben ihrem Teller zu finden.
Maggie gefiel, dass es bei Ann Marie immer sauber und ordentlich war und dass sie normales Verhalten lobte, anstatt einen aufzustacheln. Kathleen sagte immer nur: »Sei kein Schaf.« Dieser Spruch war Maggie verhasst. Sie wünschte sich doch nichts sehnlicher, als wie alle anderen zu sein.
Trotz alledem wollte Maggie nicht zu Onkel Pat und Tante Ann Marie, denn sie wusste schon als Zehnjährige, dass ihre Mutter auf keinen Fall alleine sein durfte. Also fuhren sie zu dritt nach Maine.
Sie erinnerte sich noch gut an jenen Frühling. Daran, wie sie ihren Bruder auf ihrer Flitzstrecke im Kreis durch die Zimmerflucht gejagt hatte, wie sie über den Strand gerannt waren, neben den Dünen Sandburgen gebaut hatten, in ihren kurzen Jeanshosen ins Wasser gerannt und mit blauen Lippen wieder rausgesprungen waren. Sie waren ununterbrochen herumgerannt, als wollten sie dem Geschehenen davonlaufen: Ihr Vater war weg, was mit ihnen geschah schien ihm egal zu sein. Und ihre Mutter stand kurz vor dem Zusammenbruch.
Nachts hatte Maggie ohne ihren Vater im Haus schreckliche Angst. Zuhause gab es Straßenlaternen, aber wenn man in Maine nachts aus dem Fenster sah, starrte man in ein undurchdringliches Schwarz. Riesige weiße Motten flogen gegen die Lampen. Sie schafften es irgendwie immer wieder ins Haus, obwohl Maggie doch jede Ritze zustopfte. Und sie hätte schwören können, dass man, sobald es dunkel wurde, Schritte auf dem Dachboden hörte.
Nachts war es im Sommerhaus eiskalt, und selbst mit langen Unterhosen unter einem Deckenhaufen war einem nicht lange warm. Auf der Kommode in dem Zimmer, in dem Maggie und Kathleen schliefen – im Sommer war es das Schlafzimmer der Großeltern – stand ein Prager Jesulein. Die sechzig Zentimeter große Figur trug einen aufwändig bestickten Mantel und auf dem Kopf eine goldene Krone. Bei Tageslicht fand Maggie das Jesulein lustig und ernannte es zum König ihres Barbiekönigreiches. Aber je dunkler es wurde, desto unheimlicher wurde es ihr, bis sie sein Gesicht gegen die Wand drehen musste.
Maggie wachte nachts oft auf und fand sich allein. Dann kroch sie aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter an dem großen Eichentisch vor einem Wust von Papieren saß, neben sich eine Weinflasche auf dem Fußboden.
»Ist alles in Ordnung, Mama?«, sagte Maggie dann, oder: »Möchtest du darüber reden?«
In diesen Nächten schüttete ihre Mutter Maggie das Herz aus: Sie seien pleite, Maggies Vater sei Abschaum und habe seit einem Jahr eine Affäre, von der ihr feiner Onkel Patrick nicht nur gewusst, sondern die er auch vertuscht habe.
»Mein eigener Bruder«, sagte Kathleen. »Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein, das kann ich gar nicht glauben«, sagte Maggie dann, vergrub die Hände in den langen Ärmel ihres Nachthemds und wünschte, sie könnten einfach alle wieder nach Hause gehen.
»Und auch meine Mutter ist gegen mich, aber das ist ja nichts Neues«, fuhr Kathleen fort.
»Warum ist Oma gegen dich?«, wollte Maggie wissen.
»Sie meint doch tatsächlich, dass ich mir mit der Ehe mehr Mühe hätte geben sollen«, sagte ihre Mutter. »Ihrer Meinung nach komme ich in die Hölle, weil ich nicht zulasse, dass dein Vater für weitere fünfzig Jahre auf mir herumtrampelt. Aber was wäre ich euch für ein Vorbild, wenn ich bei ihm bliebe? Dann leben wir doch lieber auf der Straße.«
Maggie hätte am liebsten losgeweint. Aus dem Katechismusunterricht wusste sie genau, was die Hölle war, und ihre Großeltern hatten ihr von der Vorhölle erzählt, in der ungetaufte Kleinkinder in alle Ewigkeit mit winzigen Flügeln trieben und
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