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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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auch schon unrecht war, aber –« Sie hielt inne. »Das ist alles vollkommen unverständlich, oder?«
    Er lächelte ihr ermutigend zu: »Nehmen Sie sich Zeit«.
    Alice war schon jetzt ziemlich außer sich. Ihr Herz raste. Sie atmete tief durch und fing noch einmal ganz von vorne an. Diesmal ließ sie nichts aus. Dabei war sie selbst überrascht, wie genau sie sich an das letzte Gespräch mit ihrer Schwester erinnerte. Daran, was sie gefühlt hatte, als sie Mary noch einmal in das Lokal hatte gehen sehen, um sich ihre Lieblingshandschuhe zurückzuholen. Und an das Jaulen des Feueralarms.
    Während sie erzählte, kehrte sie zurück zu jener eiskalten Nacht, stand abermals im Chaos auf dem Gehweg, sah abermals die Toten und Verletzten und konnte abermals nichts für Mary tun, die auf der anderen Seite der einfachen, unverputzten Backsteinwand starb.
    Dann erinnerte sie sich, wie sie das Wohnzimmer der Eltern betreten hatte, an die große Erleichterung beim Anblick ihrer Brüder. Und dann, wie sie ihnen allen gleich darauf hatte erklären müssen, dass Mary noch im Lokal gewesen war. Mehr hatte sie nicht sagen können.
    Sie erzählte, dass sie damals nichts für Daniel empfunden hatte und wie kühl sie zu ihm gewesen war. Aber sie erklärte auch, dass er nach dem Unfall ihre einzige Chance gewesen war, dem Albtraum bei ihren Eltern zu entkommen und ein tugendhafteres Leben zu führen.
    Sie gab zu, weder Daniel noch sonst irgendjemandem erzählt zu haben, was sich in jener Nacht wirklich abgespielt hatte.
    Pfarrer Donnelly war zu jung, um zu wissen, dass der Brand im Cocoanut Grove noch jahrelang im Gespräch geblieben und immer wieder in den Zeitungen thematisiert worden war. Sie erzählte, dass sie süchtig nach diesen Berichten gewesen war, obwohl sie davon trübsinnig wurde, und dass Daniel ihr abgeraten hatte, sich dem Thema weiterhin auszusetzen.
    Wenn sie einmal von einem Opfer gehört hatte, vergaß sie es nie. Sie trug jedes einzelne Schicksal für immer bei sich. Eine Familie aus Wilmington hatte vier Söhne verloren, Soldaten auf Heimaturlaub. Sie lagen nebeneinander auf dem Wildwood Friedhof, und einige von Alices jungen Kolleginnen in der Kanzlei besuchten die Gräber jeden Samstagmorgen, obwohl sie die jungen Männer gar nicht gekannt hatten.
    Clifford Johnson, ein zwanzigjähriger Rettungsschwimmer, erlitt bei der Rettung von zwei Menschen schwere Verbrennungen auf drei Viertel seiner Haut. Er lag fast zwei Jahre lang im Boston City Hospital. Nach unzähligen Operationen heiratete er seine Krankenpflegerin und kehrte nach Missouri zurück. Er starb 1956 in einem Feuer.
    Jedes Mal, wenn sie von einem Opfer hörte, erinnerte sie sich ihrer letzten Worte an ihre Schwester und den Ausdruck auf Marys Gesicht. Du hättest eben nicht mit ihm ins Bett steigen sollen . Mit diesen Worten hatte sie ihrer Schwester Angst gemacht, obwohl sie doch genau gewusst hatte, dass Henry ihr einen Antrag machen wollte. Mary hatte geglaubt, dass Henry sie wegen dieser Sache ablehnte, und Alice hatte das nicht richtiggestellt. Vielleicht war es der letzte Gedanke ihrer Schwester gewesen. Jetzt würde sie die Wahrheit nie erfahren.
    Als sie fertig war, sah Alice Pfarrer Donnelly über den Tisch an, als wäre er ein Fremder. Sie fühlte sich entblößt. Über sechzig Jahre lang hatte sie immer und immer wieder über jene Nacht nachgedacht, aber ihre Gedanken und Erinnerungen nie ausgesprochen. Hatte es sich gelohnt, jetzt alles zu sagen? Im Augenblick fühlte sie sich jedenfalls überhaupt nicht besser.
    Sie legte ihre zitternden Hände in den Schoß.
    Bisher war es eine Sache zwischen ihr und Gott gewesen, und sie hatte sich auf Seinen unbändigen Zorn vorbereitet, weil sie den schließlich verdiente. Aber der Pfarrer sah aus, als würde er gleich weinen. Waren da nicht Tränen in seinen Augen?
    Er schüttelte den Kopf: »Ach Alice, das tut mir ja so leid.«
    »Es tut Ihnen leid?«
    »Jahrzehntelang haben Sie das ganz grundlos mit sich herumgetragen. Sie haben nichts falsch gemacht.«
    »Aber natürlich habe ich das.«
    Er beugte sich vor und legte eine Hand auf ihre.
    »Es macht mir Sorgen, dass Sie sich deswegen noch immer so quälen«, sagte er. »Haben Sie nie mit Ihren Kindern darüber gesprochen?«
    Was sollte sie ihnen denn sagen? Dass ihre einzige Schwester wenige Stunden vor ihrer Verlobung umgekommen war? Dass es zwar ein tragischer Unfall war, es aber auch zur Einführung von neuen Feuerschutzbestimmungen im ganzen Land

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