Sommer in Maine: Roman (German Edition)
abgewogen, bevor ich die Papiere unterzeichnet habe.«
»Tja, dann muss ich Ihnen nochmals danken«, sagte er. »Derartige Großzügigkeit ist eine Seltenheit, Alice. Sie sind der Schlüssel zur Lösung unserer Probleme. Sie sichern unser Überleben.«
Da erinnerte Alice sich an einen Nachmittag vor ein paar Wochen, als sie neben Pfarrer Donnelly an einem Krankenbett gestanden und beobachtet hatte, wie er die Sterbesakramente erteilte. Wie sehr das den Sterbenden getröstet hatte. Alice hoffte, dass ihre Kinder eines Tages verstehen würden, worum es ihr ging. Dann dachte sie, dass sie heute etwas grob mit Pfarrer Donnelly umgesprungen war.
»Nein, Sie selbst sind der Schlüssel«, sagte sie und war entschlossener denn je.
Maggie
A ls Maggie am Morgen nach dem Streit aufstand, saßen ihre Mutter und Ann Marie teetrinkend auf der Veranda. Es musste geregnet haben, denn hier und da war das Holz feucht und noch nicht gänzlich von der heißen Morgensonne getrocknet. Kathleen beugte sich über eine Zeitung, und es sah aus, als würde Ann Marie winzige Knöpfe auf kleine blaue Stoffquadrate kleben. Einen Augenblick lang dachte Maggie schon, ein Wunder sei geschehen und die zwei hätten sich vertragen. Wenn das möglich wäre, war auch Weltfrieden kein Problem mehr.
Doch als Maggie durch die Tür trat und ihnen einen guten Morgen wünschte, blickte Kathleen von der Zeitung auf und sagte: »Mensch Mags, heute ist ein ganz toller Artikel über Whitey Bulger im Globe . Den musst du lesen.«
Whitey Bulger war ein irischer Gangsterboss aus dem Süden Bostons, dessen Erfolg angeblich auf einer dubiosen Beziehung zum FBI gründete. Sein Bruder hatte den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, hatte Jura studiert und war schließlich zum Präsidenten des Senats von Massachusetts aufgestiegen. Die Bulgers kamen aus der gleichen Nachbarschaft wie Ann Maries Familie, und ihr Bruder war mal eine kleine Nummer in Whitey Bulgers Gang gewesen. Kathleen nutzte jede Gelegenheit, in Gegenwart von Ann Marie etwas in der Richtung zu erwähnen, weil sie genau wusste, dass sich ihre Schwägerin dafür schämte.
Und Kathleen war noch nicht fertig: »Wusstest du, dass Whitey Bulger ein Kind hatte? Hier steht, dass der Kleine an einer seltenen Krankheit gestorben ist und Whitey und seine Jungs deshalb so böse geworden sind. Ziemlich interessant, oder?«
Gerade hatte Ann Marie Maggie noch angelächelt, jetzt senkte sie den Blick.
Maggie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter andere schikanierte. Sie warf ihr einen wütenden Blick zu.
Was denn? , sagte Kathleens Mund lautlos, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
Die Sache mit Whitey Bulger war wieder etwas, das Maggie an Gabe erinnerte. Dabei hatte es eigentlich gar nichts mit ihm zu tun. Als Kind war Maggie verrückt nach der Bulger-Gang gewesen und war später immer davon ausgegangen, dass sie jeder kannte. Aber dann erwähnte sie die Gang irgendwann Gabe gegenüber, und er brach in solch ein Gelächter aus, dass ihm das Bier zur Nase herauskam.
»Was ist daran so witzig?«, fragte sie.
»Whitey Bulger?«, hatte er ungläubig gesagt. »Das klingt wie der Kosename von einem Burschenschaftler für seinen Schwanz.«
Kathleen legte ihre nackten Füße auf eine Kühlbox, die vermutlich schon seit letztem August auf der Veranda herumstand.
»Lust auf Frühstück im Diner?«, fragte sie Maggie.
Maggie hatte einen Bärenhunger, aber sie war nicht gerade heiß darauf, mit ihrer Mutter alleine zu sein. Kathleen ging ihr auf die Neven, und sie nahm es sich übel, dass sie von ihrer Mutter genervt war. Sie hatte versucht, das Gefühl zu unterdrücken, aber wenn sie ehrlich war, war es vor Kathleens Ankunft schöner hier gewesen.
Ihre Mutter wollte, dass sie zu ihnen nach Kalifornien zog, und brachte das jedes Mal ins Gespräch, wenn sie alleine waren. Es war eine lächerliche Idee, aber Maggie fragte sich, ob der Gedanke sie vielleicht deshalb so aufregte, weil er eine tatsächliche Möglichkeit darstellte. Sie hatte große Angst vor finanzieller Not. In New York war es schon ein Kampf, nur sich selbst über Wasser zu halten. Und wenn sie sich dieses Kind einfach nicht leisten konnte und schließlich doch zu ihrer Mutter würde ziehen müssen? Sie sah sich schon als Alleinerziehende ihr Leben im Schatten von Kathleens Hippieschlaftablette von einem Freund und seiner Würmerfarm fristen, und natürlich auch im Schatten von Kathleen selbst, die Maggie ständig daran erinnern würde,
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