Sommer in Maine: Roman (German Edition)
einer Bank auf der anderen Straßenseite machte. Diese Dinge würden sich nicht verändert haben. Aber alles andere würde nie wieder sein wie früher.
In Cape Neddick hatte ihr Leben schnell einen neuen Rhythmus angenommen. Hier waren Gabe, Rhiannon, Allegra und ihre Kollegen durch Alice, Ann Marie und Connor ersetzt worden. Es war noch kein Monat vergangen, aber sie hatte schon an Großstadtmuskulatur abgebaut. In Maine gab es jede Menge Platz, aber in New York war man täglich von Fremden umgeben, lebte zwischen, unter und über ihnen. Der Geruch in der U-Bahn war eine Mischung aus den Parfums, dem Schweiß, dem Urin und dem Essen dieser Fremden. Sie lasen bei einem mit, und obwohl man sich darüber ärgerte, sagte man nichts, weil man bei Gelegenheit dasselbe mit ihnen machen würde – der Mensch ist eben ein neugieriges Wesen.
Die Stadt brach ihr täglich das Herz: Schon morgens begegneten ihr gleich vor der Haustür Obdachlosigkeit, Krankheit und Grausamkeit. Gewalt entstand wie aus dem Nichts. Einmal hatte sie am Grand Central Terminal auf die U-Bahn gewartet und beobachtet, wie ein junger Schwarzer einem älteren weißen Mann so ins Gesicht schlug, dass der hinfiel. Zuvor hatte der Alte ein widerliches Wort benutzt, das Maggie nie über die Lippen kommen würde. Trotzdem hatte sie den jungen Mann für feige gehalten.
Sie hatte junge Mütter beobachtet, die ihre Kinder am Arm rissen und schrien, sie sollen sich gefälligst beeilen oder nicht so krümeln. An anderen Tagen hatte sie dann dieselben Mütter dabei beobachtet, wie sie freudestrahlend eine Runde nach der anderen Hoppe, Hoppe Reiter spielten.
Als sie eines Nachts irgendwo im East Village weinend auf der Straße gesessen hatte, waren mehrere Leute stehengeblieben und hatten gefragt, ob alles in Ordnung sei. Sie hatten sich um sie gesorgt, als gehöre sie zur Familie. Aber als ihr an einem grauen Nachmittag im schicken Updown jemand die Handtasche weggerissen hatte und sie um Hilfe schrie, hatte sich niemand nach ihr umgedreht.
Im Gegensatz dazu war hier in Maine alles, Gutes wie Schlechtes, vorhersehbar. Wenn sie doch nur bleiben könnte. Sie malte sich verschiedene Szenarien aus: Vielleicht könnte sie als Putzfrau in St. Michael anfangen, eine Art Eleanor Rigby, die nach der Hochzeit den Reis aufsammelt. Oder sie könnte einen Bestseller schreiben und eine der Schriftstellerinnen werden, deren Kurzbiografie auf dem Schutzumschlag einen vor Neid erblassen lässt: Die Autorin lebt in Maine und Südfrankreich .
Wenn sie wenigstens bleiben könnte, bis das Baby da war.
Bald würde es das Haus nicht mehr für sie geben. Sie konnte es noch nicht ganz glauben. Hatte Alice wirklich den Flecken Erde hergegeben, der ihnen allen am meisten bedeutete? Maggie hatte sich vorgestellt, mit ihrem Kind hierher zu kommen, bis sie selbst eine alte Frau war.
Kathleen meinte, dass Ann Marie und Pat ganz offensichtlich Alices baldiges Ableben ersehnten, damit sie sich das Haus unter den Nagel reißen konnten. Hatte sie sich das mit dem Erbe vielleicht deshalb so zurechtgelegt, damit man ihr stattdessen ein ewiges Leben wünschte? Das schien Maggie die einzig logische Erklärung.
Ann Marie war der Meinung, Connor habe Alice irgendwie ausgetrickst, aber das war natürlich absurd. Er war ein guter Mensch und ein aufrichtiger Priester. (Wenn sich eine in jemanden verguckte, der sein Leben Jesus gewidmet hatte, dann Maggie.) Eine sitzengelassene Schwangere erkannte einen wirklich anständigen Mann aus hundert Kilometer Entfernung.
Kurze Zeit später unterbrach Maggie ihre Arbeit, um einen Spaziergang die Briarwood Road hinauf zu machen. Sie versuchte, die Stille in sich aufzunehmen und konzentrierte sich auf die durch die Pinien fallenden Sonnenstrahlen und den Vogelgesang über ihrem Kopf. Am Ende der Straße drehte sie sich nach den zwei Häusern um, hinter denen das Meer glitzerte.
Sie bog auf die Shore Road ein und ein Jeep mit einem Surfboard auf dem Beifahrersitz brauste an ihr vorbei. Schließlich erreichte sie Rubys Gemischtwarenladen und ging hinein, um eine Flasche Orangensaft zu kaufen.
Es roch nach scharfem Reinigungsmittel.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte Ruby höflich.
»Danke, gut, und Ihnen?«
»Gut, gut.«
Im Gang zum Kühlschrank im hinteren Teil des Ladens kam ihr Mort gebeugt wie ein Limbo-Tänzer mit einer Kiste gläserner Milchflaschen auf der Schulter entgegen. Sie wollte ihm helfen, ihn aber auch nicht beleidigen, also blieb sie
Weitere Kostenlose Bücher