Sommer in Maine: Roman (German Edition)
nichts gewesen. Pat und sie hatten sich darauf geeinigt, seine Mutter nach der Abreise der Brewers zur Rede zu stellen, denn sie wollten Steve und Linda nicht in ihre Familienangelegenheiten hineinziehen. Es würde ganz bestimmt ein unangenehmes Gespräch werden, und Ann Marie wollte wirklich nicht, dass die ganze Newtoner Nachbarschaft davon erfuhr.
Als sie von Alices Abmachung mit dem Priester erfuhr, hatte Ann Marie ein bisschen die Kontrolle verloren. Sie war tatsächlich auf Alices Tomatenpflanzen herumgetrampelt. Es war fast eine außerkörperliche Erfahrung gewesen: Eben hatte sie noch dagestanden und darüber nachgedacht, was Alice getan hatte, und im nächsten Augenblick riss sie die vielblättrigen Pflanzen an ihren knackigen Stängeln aus der Erde und brach sie über dem Knie. Die Tomaten landeten auf der Erde, und Ann Marie zerquetschte die größten unter den Hacken und bewegte die Füße wie beim Twist hin und her.
Nach dem kurzen Schlagabtausch, der darauf folgte, hatte sie das Weite gesucht. Es hatte gut getan, einfach wegzufahren und zu wissen, dass die anderen ihr vom Fenster aus erstaunt hinterhersahen. Aber Ann Marie hatte keine Ahnung gehabt, wohin sie fahren sollte. Sie war eine Zeitlang ziellos umhergefahren, bis sie die Portsmouth Brücke überquerte. Dort hatte sie den Wagen vor einem Irish Pub geparkt und war hineingegangen.
Die Kneipe war schummerig, und die dunklen Dielen und Wände ließen fast vergessen, dass draußen helllichter Tag war. Im hinteren Teil des Raumes spielte eine Band. Dort improvisierten alte und junge Männer auf ihren Geigen und Uilleann Pipes, dem irischen Dudelsack, und füllten den Raum mit fröhlicher Ausgelassenheit. Ann Marie dachte an ihre Töchter, die früher jedes Jahr zum Wettbewerb auf dem irischen Feis Festival in New England angetreten waren. Patty hatte jedes Mal Gold geholt, aber Fiona war meistens leer ausgegangen, was ihr jedoch nichts ausgemacht hatte. Die Familie verbrachte dann noch den ganzen Nachmittag damit, auf dem Festival von einem Zelt zum nächsten zu gehen, und sie tanzten mit ein paar hundert Fremden den Siege of Ennis, dass die Korkenzieherlocken ihrer Töchter nur so hüpften. An den Kleidern ihrer Töchter, die von Wäschestärke steif und durch die Reifröcke und die vielen Stickereien schwer waren, hatte Ann Marie sechs Monate gesessen.
Jetzt saß sie beschwipst an der Bar und bestellte ein Glas Weißwein. Sie war zum ersten Mal alleine in einer Kneipe und wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte. Sie starrte zu den Flaschen hinter der Bar, las ein Etikett nach dem anderen und dachte, dass sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde.
Das Grundstück war praktisch verloren. Es würde niemals ihr gehören. Wie hatte Alice ihr das antun können? Sie verstand das einfach nicht.
Zwei Barhocker weiter saß ein weißhaariger Mann. Er sprach sie an: »Na komm schon, Kleine. Lächle doch mal! Ein hübsches Mädchen wie du sollte nicht so traurig dreinblicken.«
Wie lange war es her, dass sie jemand als hübsch bezeichnet hatte? Oder als Mädchen? Sie lächelte ihm unwillkürlich matt zu.
»Schon besser«, sagte er. Er rückte einen Hocker weiter und legte seine Hand auf ihre. Die beiden waren die einzigen Gäste.
Er war mindestens zehn Jahre älter als sie, sah aber ausgesprochen gut aus. Sehr fit und gesund. Seine nackten Beine waren braungebrannt und von dünnem, blondem Haar übersät.
»Was ist denn passiert?«, fragte er. »Na los, einem alten Freund wie mir kannst du’s doch sagen.«
»Die Familie meines Mannes treibt mich in den Wahnsinn.« So etwas hatte sie noch nie gesagt. Andere schimpften ständig auf ihre Schwiegereltern und deren Brut, aber Ann Marie doch nicht.
»Was trinkst du?«, fragte er.
»Pinot Grigio.«
»Ich glaube, du brauchst jetzt was Stärkeres, meinst du nicht?« Er rief die Barfrau und sagte: »Machst du uns zwei Jameson, Christine?«
»Ach nein, lieber nicht«, sagte Ann Marie. »Ich trinke nichts Hochprozentiges.«
Das Mädchen füllte zwei Whiskeygläser und schob sie ihnen rüber.
»Ich auch nicht«, sagte er. »Höchstens aus gesundheitlichen Gründen.«
Er reichte ihr eines der Gläser und nahm selbst das andere. Sie stießen an, dann kippte sie das Zeug hinunter, und spürte es heiß im Hals. Sie nahm einen Schluck Wein, um den Geschmack loszuwerden.
»Besser?«, fragte der Mann.
»Ein bisschen«, sagte sie. »Danke.«
Sein Name war Adam. Er erzählte, dass er in der
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