Sommer in Maine: Roman (German Edition)
es, aber leicht wurde es nie.
»Als du ein Baby warst, konnte ich zum ersten Mal die Leute verstehen, die ihre Kinder zu Tode schütteln«, hatte sie Maggie auf einer ihrer langen Fahrten nach New York erzählt.
»Na vielen Dank«, sagte Maggie.
»Aber nein, so hab ich das nicht gemeint«, sagte Kathleen. »Das hatte nichts mit dir zu tun – du warst das süßeste Baby, das ich je gesehen habe. Aber die Mutterschaft macht einen einfach wahnsinnig. Die Hormone drehen durch, du kannst nicht mehr schlafen und das kleine Biest lässt nicht mit sich reden. Bevor ich selber Kinder hatte, hielt ich diese Leute, die ihre Kinder schütteln, für Monster mit unnatürlichen Zwängen. Dann ist mir klar geworden, dass diese Aggression total normal ist. Sich unter Kontrolle haben, das ist unnatürlich, das ist die eigentliche Anstrengung.«
Ihrer Tochter sollte das klar sein, sie sollte das Wichtigste schon im voraus wissen. Hätte sie selbst das gewusst, wäre vieles leichter gewesen.
Kathleens Mutter hatte nie begriffen, wie wichtig es war, schmerzhafte Erfahrungen zu teilen. Nicht ihrer selbst willen, sondern zum Wohle anderer. Wenn Alice ihren Alkoholismus nicht versteckt, sondern darüber gesprochen hätte – darüber, wie er sie kaputtmachte und darüber, dass sie seinetwegen sich und ihre drei Kinder in Lebensgefahr gebracht hatte –, wäre Kathleen vielleicht nicht Jahre später in denselben Dreck gerutscht.
Maggie und Kathleen hatten eine sehr offene Beziehung zueinander, dafür hatte sie gesorgt. Sie waren beste Freundinnen. Als Maggie zum College nach Ohio zog, hatte Kathleen geheult wie ein Schlosshund, dabei war sie eine erwachsene Frau und Mutter gewesen. Auch heute litt sie, wenn sie sich nach einem Besuch in New York verabschieden musste. Kathleen erzählte ihrer Tochter alles, und Maggie konnte sich ihr anvertrauen. Sie war stolz darauf, auch wenn Alice ihr Verhältnis zu Maggie falsch fand.
Das Handy vibrierte auf der Arbeitsfläche. Eine SMS von Arlo: Erfolg auf ganzer Linie! Bin auf dem Heimweg!
Nach einem Vortrag war er immer besonders gut gelaunt. Schulkinder waren das beste Publikum: Kein anderer Teil der Bevölkerung sprach so gerne über Fäkalien und schleimige Würmer. Sie nannten ihn Herrn Wurmdreck. Wenn Kathleen mitkam, stellte er sie als Frau Wurmdreck vor. Zu diesen Vorträgen nahm Arlo ein paar tausend Würmer mit. Das mag viel klingen, läuft aber auf nicht mehr als ein Kilo hinaus. Die Kinder kreischten entzückt, wenn sie, einer nach dem anderen, die Hände in den von glitschigen Kreaturen wimmelnden Eimer steckten.
Kathleen war stolz auf ihn. Wie viele Menschen hatten nicht nur eine gute Idee, sondern setzten sie auch in die Tat um? Das Geschäft spiegelte ihre Beziehung wider. Arlo war ein Träumer, ein Optimist, einer, der an das große Ganze dachte. Kathleen war Realistin – sie sah die Welt, wie sie war. Zusammen waren sie unschlagbar.
Sie lächelte und überlegte, ob sie sich umziehen sollte. Raus aus den weiten Pyjamahosen und dem alten Uni-T-Shirt und rein in ein aufreizendes Kleidchen. Aber warum sollte sie? Er hatte sie tausendmal nackt gesehen und sie ihn ebenfalls. Sie war fast sechzig, er vierundsechzig. Das Spiel war aus. Außerdem schätzte sie an ihrem Sexleben ja genau das: Es war erfrischend, dass sie es beide nicht so wichtig nahmen. Nicht aus Gleichgültigkeit, eher aus Bequemlichkeit. Nie war Sex so einfach gewesen. Das hatte mit seiner Wärme und Zärtlichkeit zu tun, aber auch mit ihrem Alter. Irgendwann kümmerte einen das Schwabbeln und Wabbeln einfach nicht mehr und man weigerte sich schlichtweg, den Bauch einzuziehen, wenn man sich gerade auf dem Weg zum Orgasmus befand. Jedenfalls war es bei ihr so.
Jahrelang hatte sie sich Gedanken über ihr Aussehen gemacht. Heute gab es nur noch eine Person, deren Meinung über ihr Äußeres sie verletzten konnte, und das war ihre Mutter. Alice stand unter dem fast krankhaften Zwang, Körpergewicht zu thematisieren.
Zuletzt hatte Kathleen sie vor fünf Monaten zu Weihnachten gesehen.
»Gut siehst du aus. Hast wohl ein paar Kilo abgenommen«, hatte sie damals gesagt.
Kathleen hasste sich dafür, dass sie der Kommentar zufriedenstellte. »Wir gehen viel wandern. Die Farm liegt ja am Fuß der Berge. Ich hatte dir doch Fotos geschickt.«
Es ärgerte sie, dass ihre Mutter sie nie besucht hatte. Nur Maggie und Clare waren gekommen.
»Sehr gut«, hatte Alice geantwortet. »Aber bleib dran. Im Winter neigt man dazu, zu
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