Sommer in Maine: Roman (German Edition)
weiterhin sitzen.
»Daniel, ich habe mich nicht in der Küche abgeschuftet, damit du kalt isst«, sagte sie. »Setz dich!«
Er setzte sich.
Paul trank an dem Abend mehrere Bier. Kathleen konnte es ihm nicht verübeln. Auf der Heimfahrt sagte er: »Ich liebe dich, Süße, aber vor deiner Mutter graust es mir.«
Jemand anderes wäre vielleicht beleidigt gewesen, aber Kathleen fühlte sich in diesem Augenblick besonders zu ihm hingezogen. Alice wusste, wie man andere um den Finger wickelte. Wer sie nicht gut kannte war für gewöhnlich von ihr fasziniert, weil sie schön und irgendwie überlebensgroß war. Aber Paul hatte sie gleich durchschaut.
»Du darfst nie wie sie werden, das musst du mir versprechen«, sagte er.
»Um Gottes willen, nein! Ich verspreche es«, hatte sie gesagt. »Und wenn doch, dann kannst du mich gerne erschießen.«
Ann Marie
A nn Marie erwachte, bevor der Wecker klingelte. Es war still, und durch die Stores konnte sie sehen, dass die Straßenlaternen noch leuchteten. Die Nachttischuhr zeigte fünf Uhr vierzehn. Sie zitterte vor Aufregung, kniff die Augen zusammen und fühlte sich wie ein Kind am Weihnachtstag.
Dann stand sie auf, zog sich den Bademantel über und schlüpfte in die Hausschuhe. Es gab eine Menge zu tun, also nichts wie los. Vorm Schlafengehen hatte sie noch staubgesaugt und den Geschirrspüler ausgeräumt. Normalerweise war Sonntag Putztag, aber heute war sie den ganzen Tag unterwegs und frühestens am späten Nachmittag wieder zuhause.
Endlich war der zweite Juni da. Seit dem Frühjahr zählte sie die Tage bis zur Wellbright Miniaturenmesse. Das erste Mal seit fünfundzwanzig Jahren kam die Messe aus England über den Atlantik, und ihre erste Station war hier in Boston. Seit Wochen informierte Ann Marie sich im Internet über die Aussteller und Angebote. Um zehn Uhr wollte sie an einem Workshop über Puppenhauselektrik teilnehmen, um in ihrem Haus in Zukunft echte Lampen leuchten zu lassen. Fürs Puppenhauswohnzimmer hatte sie sich schon einen Kronleuchter mit Glühbirnen wie matte Perlen ausgesucht.
Nach dem Workshop würde sie sich viel Zeit für die Stände nehmen, von einem zum nächsten gehen und endlich all die Dinge sehen, die sie schon so oft auf dem Computerbildschirm bewundert hatte. Minnies Miniaturen aus Staffordshire stellten entzückende kleine Törtchen mit einer Glasur wie echtes Marzipan und nadelkopfgroßen Keramikerdbeeren her. Man konnte sogar ein Stück herausnehmen und die Schokoladen-Himbeerfüllung im Inneren sehen.
Winzig & Winzig hatten fein gearbeitete, fingernagelgroße Silberbierkrüge. Wäre das nicht eine nette Hommage an ihren Mann und ihre gemeinsame Deutschlandreise vor ein paar Jahren?
Ein Zuhause Für Die Lieben war ihre Lieblingsfirma. Dort gab sie monatlich Bestellungen im Wert von um die acht-, neunhundert Dollar auf. Und jetzt würde sie vielleicht endlich die Besitzer kennenlernen. Das Ehepaar Lollie und Albert Duncan hatte sich auf dem Markt mit ihren Küchenutensilien durchgesetzt, von denen Ann Marie beinahe jedes Stück besaß: Sie verkauften filigrane Pfannenwender und Schaumschläger, kronkorkengroße Heidelbeerkuchen und Edelstahlkühlschränke, die batteriebetrieben summen konnten.
Wenn sie die Nerven nicht verlor, würde sie, bevor sie ging, die Fotos von ihrem Puppenhaus bei der Jury einreichen, um am diesjährigen Puppenhausdesignwettbewerb teilzunehmen. Natürlich würde sie nicht gewinnen. Die meisten Teilnehmer waren schon seit Jahren dabei, manche von ihnen machten das sogar professionell. Aber wenn sie sich ihre Fotos ansah, hätte sie schwören können, ein richtiges Haus zu sehen, keinen Miniaturnachbau. Da war auch Pat ganz ihrer Meinung.
Es war ein Jahr her, dass Ann Marie angefangen hatte, sich mit Puppenhäusern zu beschäftigen, weil sie eines für ihre Enkelin hatte einrichten wollen. Damals kaufte sie in einem Spielzeugladen einen Bausatz für ein viktorianisches Einfamilienhaus: Drei Zimmer mit einer großen Veranda drumherum. Eine Woche lang setzte Ann Marie die Einzelteile sorgfältig zusammen. Die Fassade strich sie hellgelb, die Fensterrahmen und das Verandageländer setzte sie weiß davon ab. Mit Hilfe einer Heißklebepistole befestigte sie Vorhänge. Den Stoff dafür kramte sie aus ihrer Restekiste: Schwerer, bodenlanger, dunkelgrüner Samt fürs Wohnzimmer, kurze, rot-weiß-karierte Baumwolle für die Küche und buntgepunktete Gardinen fürs Kinderzimmer. Dann die Möbel: Ein kleines,
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