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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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blau-weißes Stockbett, eine passende Krippe, ein weißes Schaukelpferd mit seidiger Mähne und eine Spielekiste. Fürs Bad fand sie eine authentische Toilette mit Spülkasten. Die wenige Zentimeter breiten, flauschigen Handtücher hatte sie aus einem Waschlappen geschnitten und mit einem weißen Band umsäumt. Für das Wohnzimmer kaufte sie Sofa und Sessel, eine Standuhr und zwei Serviertische. In das Schlafzimmer der Eltern stellte sie ein Himmelbett, und für die Küche kaufte sie eine komplette Garnitur mit allem, was dazu gehört, inklusive einer winzigen Cornflakespackung und einem Karton Persil.
    Manchmal setzte sie sich mit einer Tasse Tee eine halbe Stunde oder länger vor das Puppenhaus und bewunderte ihr Werk ungläubig. Als das Projekt schließlich vollendet war, konnte sie sich nicht mehr davon trennen: Für die Enkel wäre es nur irgendein Spielzeug. Als die kleine Maisy sich das Haus anschaute und ihre klebrigen Finger den weißen Schlafzimmerteppich berührten, sagte Ann Marie, die sonst mit Kindern sehr geduldig war, streng: »Erst die Hände waschen!« Später fand sie ihr Verhalten ein bisschen albern, aber andererseits war es doch auch nicht zu viel verlangt.
    Die Kinder machten sich über ihren neuen Zeitvertreib lustig, mit Ausnahme von Daniel Juniors Verlobter Regina, die das Puppenhaus einfach zauberhaft fand. Regina war ein liebes Mädchen. Sie war wie Ann Marie in der katholischen Kirche Gate of Heaven in Süd Boston getauft und konfirmiert worden. Ann Marie war klar, dass Regina keine andere Wahl hatte, als extrafreundlich zu sein, schließlich wollte sie in den Familienkreis eintreten. Und was das bedeutete, wusste Ann Marie genau.
    Sie hatte schon viele Hobbies gehabt: Die Gestaltung von Familienalben und Blumenarrangements und eine Zeit lang sogar Quilten. Doch nichts davon hatte ihr Herz so berührt wie das Puppenhaus. Das Haus ihrer Kindheit war kunterbunt bevölkert gewesen: Bei ihrer Mutter ging jeder ein und aus und der Küchentisch wurde von einer Horde Nachbarsfrauen besetzt, die Karten spielten, Whiskey tranken und die Küche verqualmten. Sie redeten laut und gleichzeitig. Die Söhne dieser Frauen waren Herumtreiber und landeten früher oder später im Gefängnis. Es sei denn, sie stellten es schlau an wie einige von Ann Maries Cousins und wurden Polizisten. Ganz selten schaffte es mal einer in die Politik. An die erinnerte man sich am längsten. Und natürlich an die Verbrecher. (Aus dem Bulger Clan, dem bekanntesten der Gegend, war einer von jeder Sorte hervorgegangen: Ein großer Politiker und ein Gangsterkönig.)
    Auch Ann Maries Bruder Brendan war abgerutscht. In den Zeitungen nannten sie ihn einen Gangster, aber das war übertrieben. Er war ja nur ein kleiner Junge, der tat, was man ihm sagte. Es wurde gemunkelt, er habe Whitey Bulger bei einem Mord geholfen, und vielleicht stimmte das sogar. Aber wenn Ann Marie an ihn dachte, sah sie einen Jungen in kurzen Hosen auf Castle Island im Gras sitzen, mit dem Gesicht zum Hafen und den grauen Gebäuden Süd Bostons im Rücken. In dieser Erinnerung biss er gerade in seine Lieblingsspeise, einen Hot Dog von Sullivans, und hatte Ketchup am Kinn.
    Brendan war seit zwanzig Jahren verschwunden.
    Schon als junges Mädchen hatte Ann Marie sich geschworen, niemanden aus Süd Boston zu heiraten, sondern einen mit ein bisschen Geld in der Tasche. Sie sehnte sich nach einem geordneten Leben und ging als erste in der Familie zum College. In St. Mary kämpfte sie sich in der Hoffnung durchs Studium, einen netten irischen Jungen aus dem Schwestercollege kennenzulernen. Patrick war ideal, und sie arbeitete hart daran, ihm zu zeigen, dass er sie brauchte und dass es Zeit war, sich von den anderen Mädchen zu verabschieden.
    Für ihre Mutter waren die Kellehers nichts als Spitzendeckchenwichtigtuer, aber das war Ann Marie egal.
    Bis vor kurzem war Ann Marie mit sich als Mutter zufrieden gewesen, aber die Ungewissheiten, die mit dem Großziehen von drei Kindern verbunden waren, belasteten sie manchmal auch heute noch. Vielleicht sogar ganz besonders heute. Sie fragte sich manchmal, ob sie an der unangenehmen Geschichte mit Daniel Juniors letztem Job oder an der Sache mit Fiona nicht eine Mitverantwortung trug.
    Wo waren ihre Kinder in diesem Augenblick? Waren sie angeschnallt? Glaubten sie noch an Gott? Wussten sie, wie man einen Haushalt führte und auch warum? Hatte sie genug für sie getan? Konnte eine Mutter je genug für ihre Kinder tun?
    Sie

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