Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Herfahren einfach nicht leisten.«
»Hat dich jemand darum gebeten?«, fragte Kathleen.
Ann Marie versuchte es noch einmal deutlicher: »Alice ist sonst zwei Wochen lang ganz allein.«
»Sie ist doch das ganze Jahr lang allein, Ann Marie.«
»Das mag ja sein, aber es ist doch ein Unterschied, ob sie hier bei uns in Massachusetts ist oder hunderte von Kilometern entfernt mutterseelenallein am Strand.«
»Mit dem Auto sind es anderthalb Stunden«, sagte Kathleen. Dann wurde sie lauter: »Was habe ich überhaupt damit zu tun?«
»Eigentlich ist der Juni ja dein Monat. Ich dachte, dass wir uns vielleicht etwas einfallen lassen könnten, um –«
»Dir ist schon klar, dass ich fünftausend Kilometer entfernt lebe?«, sagte Kathleen, als könnte Ann Marie diese Absurdität entgangen sein.
»Ja, das war mir klar«, sagte sie. »Aber ich dachte, dass Maggie oder Christopher vielleicht für ein paar Extratage hinfahren könnten, damit es für Alice nicht zu lange wird.«
»Die beiden haben Verpflichtungen. Sie können nicht einfach alles stehen und liegen lassen und einen halben Monat in Maine am Strand liegen.«
Als hätten Pat und sie keine Verpflichtungen. »Von einem halben Monat hat auch niemand gesprochen.«
»Maggie und Gabe sind in der ersten Junihälfte da. Das ist mehr als genug.«
Ann Marie spürte, wie sie innerlich aufgab. Wie immer würde ihr Bedürfnis, die unangenehme Auseinandersetzung zu beenden, über ihren Wunsch nach Gerechtigkeit siegen. Sie war in einer kampflustigen Familie aufgewachsen. Als sie die Kellehers kennenlernte, waren Vorwürfe, Türenknallen und aufgelegte Telefonhörer nichts Neues für sie. Sie war auch damit vertraut, wie die Familienmitglieder trotz allem schließlich wieder zueinander fanden. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter, als Ann Marie noch jung war, herausgefunden hatte, dass ihr Mann eine Affäre mit ihrer Sandkastenfreundin hatte. Ann Maries Mutter hatte ihren Mann mit einer Pfanne drohend die Straße hinuntergejagt. Dann hatte sie ein Fläschchen Schlaftabletten geschluckt und auf das Ende gewartet. Sie hatte überlebt, und zwei Tage später benahmen sie sich wieder, als wäre nichts gewesen: Er kam zum Abendessen nach Hause, und nach ein paar Gläsern saß sie auf seinem Schoß.
Aber manches war unverzeihlich und es kam vor, dass Familienmitglieder nach einem Streit von der Bildfläche verschwanden: Ihre Fotos hingen plötzlich nicht mehr an der Wand und ihre Namen wurden nie wieder genannt. Wie kindisch das alles war.
Ann Marie hatte sich geschworen, dass in ihrem Haushalt niemand brüllen würde, und schickliches Benehmen immer ihr höchstes Gebot sein würde. Pat war ganz ihrer Meinung. Er hatte gesagt, dass seine Schwestern, besonders Kathleen, so viel Freude am Ausgraben der Vergangenheit hatten, dass er zu dem Zeitpunkt, da er Ann Marie kennenlernte, sein Pensum an Reflexion und Diskussion schon erfüllt hatte. Kathleen bezeichnete sich doch nur aus Geltungssucht als Alkoholikerin, und um die anderen, die sich ab und an ein Gläschen gönnten, unterschwellig zurechtzuweisen.
(Am letzten Thanksgiving hatte Ann Marie zum Kuchen eine Flasche Champagner geöffnet: »Nur ein Schlückchen!« Darauf hatte Kathleen gesagt: »Ist dir nicht klar, dass dieses Zeug in einer Alkoholikerfamilie besseres Rattengift ist?«)
»Wenn es dir so wichtig ist, wieso fährst du dann nicht selber hin?«, sagte Kathleen jetzt, und Ann Marie wünschte sich den Mut zu sagen: »Und du und Clare? Könnt ihr nicht auch mal einen Finger für eure Mutter rühren?« Stattdessen tat sie, was sie immer tat und machte, was von ihr verlangt wurde.
»Schon gut«, sagte sie. »Du hast recht. Vergiss es einfach.«
Bevor sie sich verabschiedeten, wurde Kathleens Ton sanfter: »Tut mir leid, wenn ich fies klinge, aber mir wächst hier alles ein bisschen über den Kopf. Auf dem Hof ist die Hölle los. Wir haben mehr zu tun als je zuvor.«
Der Hof . Ann Marie und Pat lachten über diesen Begriff. Als hielten sie dort Hühner, Kühe und Ziegen. Eine dreckige Garage voll Würmer war kein Hof, das war ein Spektakel.
Kathleen fuhr fort: »Außerdem mache ich mir Sorgen um Chris. Bei ihm geht es irgendwie nicht richtig voran.«
»Das tut mir leid«, sagte Ann Marie ehrlich. »Ich werde Daniel Junior bitten, ihn anzurufen. Die beiden sollten sich mal austauschen. Sie könnten sich auf ein Bier treffen. Nein, zum Mittagessen! Ja, ein gemeinsames Mittagessen wäre gut.«
»Danke«, sagte
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