Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Jüngste, Fiona, war fast dreißig und immer noch mit dem Friedenscorps in Afrika. Sie war eine temperamentvolle junge Frau, die ihre gesellschaftliche Verantwortung sehr ernst nahm. Ann Marie machte das stolz, doch in den letzten Jahren hatte sie immer öfter gedacht, dass es langsam Zeit wurde, dass Fiona nach Hause kam und eine Familie gründete.
Man kann seinen Teil zur Rettung der Welt auch tun, indem man ein Kind großzieht , hatte sie letztes Jahr in einem Brief an ihre Tochter geschrieben. Nachdem der Brief abgeschickt war, hatte sie Pat davon erzählt, und er hatte nur gutmütig gesagt: »Du solltest Weißwein und Briefeschreiben nicht kombinieren.«
Zur Weihnachtszeit im vergangenen Winter hatte Fiona ihre Eltern dann zu einem Abendessen eingeladen, nur sie drei. Ann Marie hatte sich gefreut. Die Einladung klang erwachsen und Fiona war manchmal noch äußerst kindisch. Ann Marie hatte ihren mit einem Weihnachtsstern bestickten Pullover angezogen und sich innerlich darauf vorbereitet, dass Fiona ihnen endlich mitteilen würde, dass sie nach Hause käme. Aber stattdessen sagte sie die unvergesslichen Worte: »Wahrscheinlich wisst ihr es schon längst: Also, ich bin lesbisch.«
Ann Marie hatte viel darüber nachgedacht. War es naiv gewesen, nichts geahnt zu haben? Pat hatte auf die Neuigkeit mit den Worten reagiert, er habe es schon vermutet und freue sich für sie. Einfach so. Ann Marie war in Tränen ausgebrochen. Selbst jetzt, Monate später, plagte sie wegen dieser Reaktion ein schlechtes Gewissen. Zuhause hatte Pat auch geweint, aber er hatte sich wenigstens vor Fiona zusammengerissen.
»Ich weiß auch nicht, wann Maggie ankommt«, antwortete Alice. »Als ich Kathleen diese unschuldige Frage gestellt habe, hat sie mir deutlich gemacht, dass mich das nichts angeht. Maggie könnte jederzeit hier auftauchen, denke ich.«
Dann sagte sie beiläufig, dass Maggie nur die ersten beiden Juniwochen in Maine sein würde. Danach wäre Alice bis zu Ann Maries und Pats Ankunft Anfang Juli allein.
Ann Marie war sauer. Sie hatten doch schon im Frühjahr vereinbart, dass Maggie den ganzen Juni in Maine verbringen würde. (Wer hatte ihr das gleich gesagt?) Eines der Ziele von Pats Aufteilung der Sommermonate war zu verhindern, dass Alice lange alleine dort war. Sie fuhren ja nicht nur zum Spaß nach Maine, sondern sie hatten auch eine Verantwortung, und die sollten sie sich teilen. Alice war eine alte Frau, ob es ihren Töchtern gefiel oder nicht. Ihr Gedächtnis ließ nach. Sie vergaß manchmal, den Fernseher auszuschalten und ließ den Schlüssel im Zündschloss stecken. Jemand musste sich um sie kümmern.
»Ich ruf dich deswegen nachher nochmal an, Mama.«
Sie war in der zweiten Junihälfte total ausgebucht. Das Bankett im Club musste organisiert werden, und am siebenundzwanzigsten war das Treffen des Glücksstern -Wohltätigkeitsvereins. Sie hatte absichtlich alles auf Ende Juni gelegt, um im Juli den Urlaub im Sommerhaus genießen zu können. Wie sollte sie da noch zwischendurch nach Maine fahren, um nach Alice zu sehen?
Zwei Wochen. Welche Tochter ließ ihre betagte Mutter ganze zwei Wochen allein?
Ende Juni waren Clare und Joe wie jedes Jahr zum Großeinkauf in Taiwan. (Wer hätte gedachte, dass Taiwan das Mekka für Händler mit Messgewändern, Heiligenstatuen und Silberkreuzen war? Und wie war es überhaupt möglich, dass ein Atheistenpärchen Devotionalien verscherbelte und damit auch noch Reibach machte? Für Ann Marie grenzte das an Blasphemie.)
Langsam stieg ihr die Galle hoch. Eigentlich war sie nicht impulsiv, aber jetzt wählte sie ohne groß nachzudenken Kathleens Nummer in Kalifornien.
»Hallo«, sagte Kathleen kühl. Vermutlich hatte sie die Nummer auf dem Display erkannt. Ann Marie war überrascht, dass Kathleen überhaupt abgehoben hatte.
»Hallo Kathleen, Ann Marie hier«, sagte sie und fühlte sich unwohl. Sie wollte die Stimmung auflockern, noch bevor überhaupt eine Stimmung entstanden war. »Bei dir ist alles gut?«
»Ja«, sagte Kathleen. »Alles ganz wunderbar.«
»Wie schön. Also eigentlich rufe ich an, weil Alice gesagt hat, dass sie in den letzten zwei Juniwochen in Maine ganz allein ist. Findest du nicht, dass das ein bisschen lang ist, so isoliert da oben in Maine? Es ist doch schlimm genug, dass sie den ganzen Mai über alleine war, aber immerhin konnten Pat und ich fast jedes Wochenende hinfahren. Aber im Juni habe ich sehr viel zu tun und kann mir das ständige Hin- und
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