Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Abreisetag nach Cape Neddick war der erste Juli, und bis dahin waren es noch vier Wochen. Aber vor ein paar Tagen hatten sich ihre Pläne geändert. Um genau zu sein hatte ihre Schwägerin sich vor ihrer Verantwortung gedrückt, und jetzt stand Ann Marie mal wieder alleine da.
Am Freitag hatte Alice nach dem Abendessen auf einen Plausch angerufen.
»Clare ignoriert mich«, hatte ihre Schwiegermutter gesagt.
Ann Marie räumte gerade Teller in die Geschirrspülmaschine: »Wieso denn das?«
»Woher soll ich das wissen! PBS bringen zurzeit eine Reihe über Die Kinder des Broadway , und in einer Folge ging es um die Geschichte der Homosexuellen im Theater. Sehr interessant übrigens. Anscheinend wimmelt die Branche von denen. Wie heißt er doch gleich, der West Side Story geschrieben hat? Also, der ja wohl auch. Tja, und das habe ich nebenbei Clare gegenüber erwähnt –«
Ann Marie nahm die offene Weinflasche vom Küchentisch und schenkte sich ein. Dieses Thema hätte sie lieber vermieden. Sie wollte gar nicht wissen, was Alice darüber dachte, ein homosexuelles Enkelkind zu haben.
Ann Marie vermutete jedenfalls, dass es das war, worauf ihre Schwiegermutter hinauswollte. Schließlich war Clares Sohn Ryan ein Musicalstar. Sie hatte sich einmal durch eine dieser Veranstaltungen gequält. Clare ging gewöhnlich an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden zu seinen Stücken, und Ann Marie dankte dem Herrn, dass es ihre Kinder nicht auf die Bühne gezogen hatte. Sie interessierten sich stattdessen für Sport (Daniel Junior) und irischen Stepptanz (Patty und Fiona). Zu einem Hockeyspiel konnte man sein Strickzeug mitbringen, ohne unhöflich zu erscheinen, und irische Musik hörte sie sowieso gern. Die Klänge verbanden sie mit ihrem Ursprung und bewegten sie.
»Naja«, fuhr Alice fort, »jedenfalls habe ich sie dann gefragt – ganz im Scherz versteht sich – ob sie sich denn keine Sorgen macht, dass Ryan sich dem täglich aussetzt und dass er es vielleicht auch bekommt. Dann hat sie mich plötzlich angeschnauzt. ›Mama, Homosexualität ist keine Krankheit. Man kann sich ihr nicht aussetzen und sie dann bekommen ‹, hat sie gesagt.«
»Außerdem hat Ryan doch eine reizende Freundin«, sagte Ann Marie. »Daphne und er sind doch schon seit dem ersten Collegejahr zusammen. Ich würde mir da keine Sorgen machen, Mama.«
Daniel Junior nannte Ryan Feenschwuchtel, aber das war ja nicht ernst gemeint. In einer Produktion des Mittsommernachtstraums hatte Ryan grüne Strumpfhosen getragen, und so war der Witz entstanden.
»Ich weiß«, sagte Alice. »Und so hatte ich es auch gar nicht gemeint. Seitdem habe ich es zweimal telefonisch bei Clare versucht, aber meinst du, sie meldet sich? Die Erstkommunionen und Konfirmationen stehen bevor, da hat sie mit dem Geschäft viel zu tun. Aber trotzdem: Ist es denn zu viel verlangt, dass meine Tochter auf einen Anruf reagiert?«
Sie steigerte sich immer weiter in die Sache hinein, und Ann Marie machte es nervös, wenn Alice sich so benahm. Am besten wäre es, das Thema zu wechseln.
»Wie ist das Wetter in Maine?«, fragte sie.
»Etwas kühl, aber sonst ganz nett«, sagte Alice. »Ich glaube, unter der Veranda beim Sommerhaus hat sich eine Kaninchenfamilie eingenistet. Vater, Mutter und zwei Kleine.«
»Wie süß.«
»Süß? Die fressen mir die Tomatenpflanzen weg, und die Grünen Bohnen auch«, sagte sie. »Ich ziehe alle Register. Der Garten ist in diesem Jahr zauberhaft, und ich werde nicht zulassen, dass sie ihn ruinieren.«
»Noch schöner als letztes Jahr?«
»Und ob! Ich hab dann doch mal diesen Fäkaliendünger von Kathleen ausprobiert. Und, ob du es glaubst oder nicht: Es scheint tatsächlich zu funktionieren. Warum können sie sich nicht einfach einen besseren Namen dafür ausdenken?«
Ann Marie lachte. Kathleen schickte Alice seit Jahren regelmäßig ihre Düngeprodukte, und seit Jahren versteckte Alice sie in einer Kiste im Keller, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Wurmexkrement besser sein könnte als Der Grüne Daumen .
»Gute Frage«, sagte Ann Marie. »Wann kommen eigentlich Maggie und Gabe?«
Ann Marie schätzte den Freund ihrer Nichte nicht besonders. Er war ihr zu glatt. Außerdem hatte Alice, die es wiederum von Kathleen hatte, gesagt, dass da vielleicht was mit Drogen lief. Wie froh sie war, dass ihre Kinder ordentliche Partner hatten. Patty war mit Josh verheiratet, ein echter Schatz, und Daniel Junior hatte die reizende Regina gefunden.
Ihre
Weitere Kostenlose Bücher