Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Fusel , hatte ihr Sohn Patrick nach dem ersten Schluck gesagt, aber Alice war damit zufrieden.) Manchmal ging sie auch zum Laden, wenn sie gar nichts brauchte, um mit den Besitzern Ruby und Mort zu plaudern. Das Lieblingsthema der beiden Alten war, was für eine Enttäuschung die Jugend von heute doch war. Dazu hatte Alice auch eine Menge zu sagen.
Ruby und Mort waren echte Mainer Urgesteine. Im südlichen Maine kannten sie jeden und jeder kannte sie. Sie waren freundlich zu Alice, im Gegensatz zu manch anderen. In den Augen der Ortsansässigen waren die Kellehers Fremde, und daran würde sich nichts ändern. Die Sommer von sechs Jahrzehnten bedeuteten hier nicht viel. Manchmal erkannte sie jemand am Steuer und winkte ihr freundlich zu. Doch sobald der Blick auf das Nummernschild aus Massachusetts fiel, senkte sich der Arm.
Ruby war neunundzwanzig Jahre alt gewesen, als Alice sie in den Vierzigern kennenlernte, und selbst damals war sie Alice alt vorgekommen. Fast sechzig Jahre später öffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann noch immer täglich morgens um sieben die Ladentür, und Mort ließ es sich nicht nehmen, die hohen Regale mit Dosengemüse und Küchenkrepp zu füllen. Bis heute trug er dabei Flanellhemd und Latzhose. Im Herbst ging er auf Elchjagd. Dann aßen sie den ganzen Winter über davon, die besten Stücke aber gingen über die Theke. Ruby schrubbte den Laden jeden Morgen mit scharfen Putzmitteln und buk Kekse, die sie in blauer Frischhaltefolie verpackt in einem Korb an die Kasse stellte. Seit die Kinder ausgezogen waren, hatten sie einen Cockerspaniel namens Myrtle. Wenn eine Myrtle starb, tauchte umgehend eine fast identische neue Myrtle auf.
Alice beneidete Ruby und Mort dafür, dass sie einander noch hatten. Wenn sie die beiden besuchte, kam es ihr vor, als sei die Zeit stehengeblieben. Dabei wusste sie genau, dass ihr Alter sich bemerkbar machte, und wenn sie mit den Folgen auch umgehen konnte, so irritierte es sie doch immer mehr. Die Namen der Frauen im Golfclub entfielen ihr, genauso die der des Priesters ihrer neuen Gemeinde. Sie hätte die Tapete ihres Kinderzimmers genau beschreiben können, konnte sich aber nicht an die Titel von Büchern erinnern, die sie vor wenigen Monaten gelesen hatte. Sie war dreiundachtzig Jahre alt und hatte ihr Lebtag kein schwerwiegendes gesundheitliches Problem gehabt. Aber in den letzten paar Jahren hatte sie so viele Spezialisten aufgesucht – einen wegen der Augen, einen wegen der Ohren, noch einen wegen der vermaledeiten Knie – dass sie vor jedem Termin mit Ann Marie scherzte: »Ich bin schon wieder mit einem attraktiven jungen Arzt verabredet.« Leute wie sie, so sagte man, hatten Glück gehabt, was nichts anderes hieß, als dass sie hatte mitansehen müssen, wie ihre Liebsten älter wurden und starben – erst ihre Eltern, dann ihre vier Brüder, schließlich ihr Ehemann – und ihr nicht einmal der Luxus einer Demenz vergönnt war, die den Schmerz hätte abstumpfen können.
Alices Mutter hatte auch diese Art von Glück gehabt. Sie war mit sechsundneunzig gestorben. In jenen letzten, dunklen Jahren ihres Lebens hatte sich ihre Mutter morgens in ihrem besten Rock und flachen Schuhen vor den Globe hingesetzt und in den Todesanzeigen die Namen derjenigen eingekreist, die sie aus der Schule, der Nachbarschaft und der Kirche gekannt hatte. Darunter viele Gleichaltrige, ihre erste Liebe und sogar die Freunde ihrer Kinder, die jetzt unbegreiflicherweise um die siebzig Jahre alt waren. (Alices Vater, zu dem Zeitpunkt schon seit zwei Jahrzehnten unter der Erde, hatte die Todesanzeigen den irischen Sportteil genannt.) Am Ende hatte sie geistig abgebaut. Manchmal stand sie auf dem Friedhof und wusste nicht mehr, zu welcher Beerdigung sie wollte. Dann nahm sie einfach an allen teil. Und manchmal ging sie hin, ohne die Todesanzeigen überhaupt gelesen zu haben. Sie dachte sich, dass sie einen der zu Beerdigenden sicherlich gekannt haben würde und der jeweiligen Person die letzte Ehre erweisen sollte. Der Trauerkreis bei ihrer eigenen Beerdigung war schließlich der kleinste, den Alice je gesehen hatte. Es kamen nur Alices Brüder, deren Kinder und Enkel, Patrick und Ann Marie mit den Kleinen, Clare und Joe und Kathleen mit Maggie. Kein einziger ihrer Freunde war da, um sie zu verabschieden. Sie hatte sie alle überlebt.
In Canton kam gelegentlich auch heute noch an Daniel adressierte Werbepost an. Es erstaunte Alice, dass der Tod einer Person auf bestimmte Dinge
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