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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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von wohltätigen, aber nicht unbedingt freundlichen, Cousins groß geworden. Jetzt war ihre größte Angst, die monatlichen Raten für das Haus nicht bezahlen zu können.
    Jedes Familienmitglied musste seinen Beitrag leisten. Alice und ihre Schwester Mary passten auf die Kinder in der Nachbarschaft auf und bekamen für einen Tag Arbeit fünfzig Cent, die sie ihrer Mutter aushändigen mussten. Die brachte es zur Bank, um am Ende des Jahres ein paar Dollar für Weihnachtsgeschenke zu haben. Mary war der bessere Babysitter: Ihre Geduld war unerschöpflich und sie mochte die Kinder sogar. Alice passte nur auf die jüdischen Kinder gerne auf, weil ihre Eltern reich waren. Die Väter arbeiteten viel, und die Mütter wollten einfach in Ruhe Mah-Jongg spielen, also schickten sie Alice mit den Kindern ins Kino und immer wieder ins Kino. Das Magnet Lichtspielhaus belohnte damals jeden Gast mit einem Geschirrstück: Montags eine Tasse, dienstags die Untertasse, mittwochs eine Suppenschüssel und so weiter, wenn auch kaum jemand das passende Essen zum Geschirr hatte. Insgesamt brachten Alice und Mary es auf ein komplettes Service.
    Ihre Brüder machten Gelegenheitsarbeiten. Timmy kellnerte und Michael schrubbte die Flure im Rathaus. Selbst ihre Mutter verdiente eine Zeit lang Geld damit, Gebäck und Stickereien wie eine Landstreicherin von Tür zu Tür anzubieten. Alice schämte sich dafür und konnte ihrem Vater nicht verzeihen, dass er das zuließ. Vor der Heirat war ihre Mutter Lehrerin gewesen, aber jetzt waren Lehrerstellen wegen der hohen Arbeitslosigkeit unter Männern für Frauen gesperrt.
    Die vier Jungs mussten zusammenrücken, damit sie ein Zimmer vermieten konnten. Alice und Mary hatten seit eh und je nur ein winziges Zimmer zu zweit, und Alice freute sich, dass es ihren Brüdern nun auch nicht besser ging. Aber die Untermieter machten ihr Angst: Manche weinten und jammerten, weil sie alles verloren hatten. Die Kleinkinder mancher Frauen brüllten schon im Morgengrauen, und viele Untermieter waren Trinker, die Alice und Mary begrapschten, wenn sie nachts auf die Toilette mussten, oder an ihrer Schlafzimmertür kratzen und sie flüsternd dazu aufforderten, doch aufzumachen und einem armen Kerl eine Freude zu machen.
    Auf der anderen Seite der verschlossenen Tür flehte Mary sie dann flüsternd an, doch bitte schlafen zu gehen, Sir, schließlich sei es doch schon spät. Einmal hatte Alice Mary ins Bett gescheucht und gegen die Tür rufen: »Hör mir mal zu, du Dreckskerl: Entweder du verschwindest jetzt oder wir sagen es unserem Vater und der zerlegt dich in Einzelteile, wie schon deinen Vorgänger.«
    Ihr Vater hatte nichts dergleichen getan, und es wäre ihm auch egal gewesen, wenn einer dieser Männer hereinspaziert wäre und eine seiner Töchter verschleppt hätte.
    Mary hatte die Augen aufgerissen: »Du bist aber mutig!«, hatte sie beinahe ehrfürchtig gesagt.
    Mary war achtzehn und zwei Jahre älter als Alice, und dennoch wollte Alice ihre große Schwester beschützen. Mary war ein schüchternes, braves Mädchen. Sie bediente ihre Eltern wie eine Dienstmagd und betrachtete die Hausarbeit als ihre Pflicht. Manchmal übernahm sie sogar Alices Aufgaben. Sie wünschte sich später einmal ein Dutzend Kinder, und es machte ihr nichts aus, sich um ihre ungehobelten Brüder zu kümmern.
    Alice war das genaue Gegenteil: Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Malen und Zeichnen war ihre Leidenschaft, und wenn man sie nur ließ konnte sie sich stundenlang in eine Zeichnung vertiefen und der Realität entfliehen. Wann immer sie konnte, setzte sie sich ans Fenster des Zimmers, das sie sich mit Mary im Dach teilte, und zeichnete ihren Blick auf die Straße, die im Garten arbeitende Mutter, Mary in ihrem Weihnachtskleid mit Muff. In diesen Augenblicken hielt sie den Atem an, denn jederzeit konnte jemand ihren Frieden stören und sie zwingen, irgendetwas zu waschen, zu bügeln oder zu stopfen.
    Die Brüder jammerten, wenn nicht Mary, sondern Alice sich um sie kümmern sollte. Bei ihr mussten sie nacheinander essen, damit sie statt fünf Tellern nur einen abwaschen musste und stattdessen mit Rita auf den Stufen vor dem Haus sitzen oder sich zum Zeichnen ins Dach zurückziehen konnte.
    »Bis ich den Teller kriege, ist das Essen längst kalt!«, beschwerte sich Timmy bei seiner Mutter, die Alice daraufhin eine Standpauke zum Thema Tischmanieren und Hygiene hielt.
    »Mit dieser Einstellung wirst du nie eine gute

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