Sommer in Maine: Roman (German Edition)
überhaupt keinen Einfluss zu haben schien. Die Kontoauszüge und Gehaltsabrechnungen, selbst die alten Schulzeugnisse, die sorgfältig in Ordner abgeheftet in seinem Büro im Keller standen, lösten sich nicht einfach in Luft auf, wie sie gehofft hatte. Und auch das gerahmte Foto von Präsident Kennedy und das Schild, das er zur Pensionierung als Ehrung von der Versicherungsfirma bekommen hatte, die nebeneinander gleich über dem Schreibtisch hingen, verschwanden nicht mit ihm. All das blieb und erinnerte sie: Einst war er da. Jetzt ist er nicht mehr da. Und die Welt dreht sich einfach weiter.
Es gab bestimmte Dinge am Leben allein, an die sie sich nie gewöhnen würde, obwohl Daniel schon seit fast zehn Jahren tot war. Zum Beispiel würde sie wohl nie lernen, für nur eine Person zu kochen: Sie konnte es sich nicht abgewöhnen, die ganze Packung Spaghetti ins Wasser zu kippen und einen fünf Pfund Krustenbraten für eine Garzeit von mehreren Stunden mitsamt Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten und Mairüben in den Ofen zu schieben, obwohl sie Gemüse eigentlich gar nicht mochte.
Auch an die Stille würde sie sich nicht gewöhnen, die sich zunächst sanft und angenehm über ihr Leben ausgebreitet hatte, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, aber nach Daniels Tod bösartig geworden war. Neunundvierzig Jahre lang waren sie verheiratet gewesen, und Alice hatte sich, so sehr sie ihn auch liebte, an jedem einzelnen Tag gewünscht, er würde endlich die Klappe halten. Am Frühstückstisch las er die Zeitungsüberschriften laut vor. Er sang »The Wild Colonial Bay« und »Molly Malone« in der Dusche. Er pfiff beim Harken des Rasens und brüllte in den Hörer, wenn eines der Enkelkinder anrief und er ihnen die gleichen Witze erzählte, die er schon Jahrzehnte zuvor seinen Kindern erzählt hatte: Weißt du, wie man einen Löwen fängt? Die leben ja in der Wüste, also braucht man nur ein Sieb. Was durchfällt ist Sand, was drinbleibt ist Löwe .
Oder auch: Tja, Chrissy, der irische Alzheimer deiner Großmutter ist leider nicht besser geworden: Sie erinnert sich jetzt ausschließlich an das Unverzeihliche.
Jetzt vermisste sie seine Fröhlichkeit, besonders im Sommer hier am Strand.
Alice nahm einen Schluck Bloody Mary, wobei sie darauf achtete, dass das Kondenswasser ihr nicht auf die Bluse tropfte. Das war noch so eine Sache, an die sie sich nicht gewöhnen konnte: Dass man von ihr als alter Dame erwartete, dass sie sich zuhause gehen ließ. Sie zog sich, wenn sie von der Messe nach Hause kam, nicht um. Heute trug sie eine weiße Hose mit weißem Feston, ein schwarzes, kurzärmeliges Seidenjäckchen und Sandalen. Sie schminkte sich jeden Morgen komplett, wie sie es schon tat, seit sie als Neunzehnjährige in der Kanzlei in der Innenstadt angefangen hatte. Sie trug auch noch den Pagenschnitt, nur war das Haar nicht mehr natürlich schwarz. (Ihre Tochter Clare hatte einmal in Gegenwart anderer kommentiert, dass es ein Wunder sei, dass Alices Haar im Alter, anstatt zu ergrauen, dunkler geworden war.)
Ihr genaues Alter kannte niemand. Keine Menschenseele. Ihre Kinder sagten, dass sie irgendwann heimlich in ihrem Führerschein nachschauen würden, aber bisher hatte das, soweit sie wusste, keiner gewagt.
Als junges Mädchen hatte sie sich beim Anblick der alten Frauen in Dorchester geschworen, keine solche Vogelscheuche im Hauskleid mit dünnem Haar zu werden. Und das war sie auch nicht. Aber jetzt stellte sie mit Schrecken fest, dass ihre drei Enkelinnen, von denen keine viel älter als dreißig war, auch so aussahen: Einfach schlampig. Wenn sie diesen Sommer nach Maine kämen, würden sie in Jogginghose und Bikinioberteil auf dem Grundstück herumstolzieren und ihre kleinen Bäuche wackeln lassen. Sie würden ihr nasses Haar einfach zurückbinden und nicht einmal Lippenstift auflegen. Ann Marie meinte, dass sie nur am Meer so waren, aber Alice war sich da nicht so sicher. Das mochte ja auf Patty und Fiona, die Töchter von Ann Marie und Pat, zutreffen. Aber Alice würde wetten, dass ihre Enkelin Maggie zu einem Sonntagsbruch in einem Café in Manhattan auch mit dem feuchten Pferdeschwanz und in den ausgefransten Jeans auftauchen würde, in denen sie hier herumlatschte. Patty und Maggie hatten die Dolan-Beine von Daniels Mutter geerbt: Dicke, formlose Stumpen, deren Unterschenkel so dick waren wie das Knie. Fiona, die sich am wenigsten um ihr Aussehen scherte, hatte als einzige Enkelin Glück gehabt und die langen, schlanken
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