Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Hausfrau«, hatte ihre Mutter einmal gesagt, und Alice war ein bisschen stolz darauf gewesen, denn sie sah sich nicht als Mutter und Hausfrau. Sie hatte Kinder nie besonders gemocht, und man hatte sie zu oft gezwungen, sich um ihre Geschwister zu kümmern: Aufpassen, Essen machen, bestrafen. So war sie schon mit Beginn der High School allem, das mit Kindern zu tun hatte, überdrüssig. Und sie tüftelte auch schon an einem Fluchtplan. Aber vielleicht war es kein richtiger Plan, sondern eher ein Traum.
Alice war keine achtbare Frau bekannt, die nicht Mutter und Hausfrau war. Die einzigen unverheirateten weiblichen Familienmitglieder waren Nonnen. Abgesehen von Tante Rose, die sich von einem Alkoholschmuggler hatte scheiden lassen und nach New York City gezogen war, wo sie jetzt bei Macys am Herald Square am Make-up-Stand arbeitete. Ihr Vater nannte Rose eine »selbstsüchtige Dirn« und verbot ihrer Mutter den Kontakt. Alice wollte am liebsten wegrennen und mit der Tante in New York leben, aber Rose hatte ihr in einem Brief geschrieben, dass sie in einer schäbigen Pension voller Vagabunden und Trinker wohne. Das sei kein Ort für ein junges Mädchen.
Als sie fünfzehn Jahre alt war, malte Alice eines Abends beim Babysitten noch, als die Mutter des Kindes nach Hause kam. Mrs. Bloom war eine kultivierte jüdische Dame mit schwarzem Haar und dunklen Augen, von der gesagt wurde, sie sei durch ihre Ehe sozial abgestiegen. Ihr Mann und sie hatten ein Bilderrahmengeschäft in Upham’s Corner, das allem Anschein nur vormittags geöffnet war.
An jenem Abend legte Mrs. Bloom ihre Handtasche auf den Tisch und sah sich Alices Arbeit an.
»Du hast großes Talent«, sagte sie. »Ist dir das überhaupt klar? Mit dem richtigen Unterricht könntest du es weit bringen.«
Alice horchte auf, doch verwarf die Idee sofort. Ihr Vater und ihre Brüder würden sie nur auslachen. Das Bild ließ sie einfach bei Mrs. Bloom liegen, um zu demonstrieren, wie wenig ihr das alles bedeutete.
Beim nächsten Mal sagte Mrs. Bloom zu ihr: »Ich habe dein Bild meinem Mann gezeigt. Er hat vielleicht keinen Geschäftssinn, aber dafür ein sehr gutes Auge. Und er teilt meine Ansicht. Du bist wirklich gut, Alice. Du musst Kunst studieren.«
Mrs. Bloom drückte ihr eine Münze in die Hand, damit sie mit dem Kleinen im Kinderwagen ins Gardner Museum ging. Er jammerte die ganze Zeit, aber das nahm Alice kaum wahr: Es war ihr erster Besuch in einem Kunstmuseum, und sie war wie verzaubert. In der Eingangshalle hing eine Gedenktafel: Die große Kunstliebhaberin und Mäzenin Isabella Stewart Gardner habe die Villa im Stil eines italienischen Palazzo gebaut. Nach ihrem Tod habe man es in ein Museum umgewandelt und nach ihr benannt. Sie sei von John Singer Sargent porträtiert worden, der als einer von vielen großen Denkern und Künstlern ihre aufwendigen Diners besucht habe. Sie sei viel gereist und habe in Paris studiert.
So eine Frau wollte Alice sein. In diesem Augenblick beschloss sie, eine große Malerin zu werden. Sie würde in Paris studieren und ihre Gemälde an reiche Franzosen verkaufen. In ihrer Wohnung an der Seine wäre sie vor trampelnden Jungenfüßen sicher und hätte endlich ihre Ruhe.
Ein Jahr verging und die Blooms zogen nach Brookline. Bei ihrer Abreise gab Mrs. Bloom Alice einen Skizzenblock mit einem Schutzumschlag aus echtem Leder: »Du musst weitermachen!«
Das versprach Alice, obwohl ihr bei Mrs. Blooms Worten ein Schauer über den Rücken gelaufen war. Zwei Wochen später war der Skizzenblock voll. Sie ging zur Bibliothek und entlieh die einzige dort verfügbare Biografie über Isabella Stewart Gardner und las sie zum dritten Mal. Dann benutzte sie die Bibliothekskarte ihres Bruders Timmy, um ein Buch auszuleihen, das sie nicht zurückgeben würde. Es war ein Band mit schwarz-weiß Fotografien von Paris. Alice schnitt sie heraus und hing sie über ihr Bett.
Alles, was Alice vom Leben als alleinstehende junge Frau wusste, wusste sie von Trudy, und der war sie nicht einmal begegnet. Ihr Telefon funktionierte über einen Gemeinschaftsanschluss, und wenn man abends in der Küche der Brennans den Hörer abnahm, konnte man Trudy zuhören, die in Beacon Hill plaudernd auf dem Sofa lag. Wenn Alices Vater bei der Arbeit anrufen wollte, probierte er es manchmal acht- oder neunmal, bis er schließlich in den Hörer sagte: »Entschuldigen Sie bitte, Fräulein, aber das ist doch kein Privatanschluss. Machen Sie es kurz, sonst muss ich mich
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