Sommer in Maine: Roman (German Edition)
bei der Telefongesellschaft beschweren.«
Alice war erleichtert, dass Trudy sich davon nicht abschrecken ließ. Sie hörte so gerne mit. Mary sagte, sie solle nicht lauschen, aber wie konnte sie wiederstehen? Trudy übertraf jede Hörfunkserie.
Trudy erzählte ihren Freundinnen bis ins Detail von ihren Verabredungen, von den edlen Restaurants, in die ihre Verehrer sie einluden und den Blumen, die am nächsten Tag kamen. Am Ende einer Firmenfeier hatte sie sogar einmal auf einem Dach am Kenmore Square mit ihrem verheirateten Chef Mr. Pembroke getanzt. Trudy verachte ihre Speckröllchen und habe in den letzten zwei Wochen strikt Diät gehalten: Täglich ein hartgekochtes Ei mit trocken Brot, sonst nichts. Wenn ihr Stiefvater endlich mit der Kohle rausrückte, würde sie im April nach Los Angeles ziehen. Sie habe dieses Buch gelesen, Alleine leben und es lieben , und beschlossen, ihre Wohnung in Lavendeltönen einzurichten und immer ein paar Cocktailzutaten im Haus zu haben. Dass manche Leute eine Frau, die so etwas tat, für billig hielten, war ihr egal.
Alice saß still da und hörte genau zu.
Eines Abends erzählte Trudy von einer Ausstellungseröffnung, zu der Mr. Pembroke sie mitgenommen hatte. Die Wände zierten Bilder von nackten Frauen, und weißbehandschuhte Kellner reichten Kanapees und Nüsse.
»Mensch«, sagte Trudys Freundin, »dein Chef hat ganz schön was für dich übrig. Es sind wohl deine Fähigkeiten an der Schreibmaschine, die ihn so beeindrucken?«
»Das und meine Manieren«, hatte Trudy gesagt. »Vermutlich war es die Unterweisung in den Grundsätzen der Etikette, die mir meine gute Mamá ermöglicht hat.«
Alice hätte fast in den Hörer gefragt, was bitteschön Etikette sei. Stattdessen fragte sie Mary, und als die es auch nicht wusste, die Dame von nebenan.
»Das sind Benimmregeln. Im Benimmunterricht kann man lernen, kultivierter und eleganter zu wirken«, erklärte die Nachbarin.
Alice nahm ein paar Dollar aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und meldete sich zum Benimmunterricht an. Die anderen Teilnehmer waren viel jünger als sie. Es waren die zwölf- oder dreizehnjährigen Söhne und Töchter reicher Anwälte und Geschäftsleute, aber Alice war das egal. Von da an fuhr sie jeden Samstagmorgen eine Stunde lang mit der Tram nach Cambridge und lernte, wie man Messer und Gabel hielt, richtig saß und stand und wie man ordentlich sprach. Sie brachten ihr sogar ein paar französische Begriffe bei.
Nach dem Unterricht setzte sie sich, die Pastellkreiden in der Tasche, am Ufer des Charles River ins Gras und skizzierte Spaziergänger. Die Kreiden hatte sie im Kunstunterricht von Schwester Florence mitgehen lassen. Meist waren es nur noch Krümel, weil sie sie tagelang in ihrer Manteltasche versteckt hatte, auf deren Satinfutter sie in der Zwischenzeit Regenbogen gemalt hatten. Alice stellte sich vor, dass ein reicher Gönner sie irgendwann dort malen sehen würde und wie angewurzelt stehenbliebe: Welch großes Talent! Du gehörst nicht hierher, mein Kind, du bist hochbegabt. Komm mit und ich zeige dir Paris.
Aber es sprach sie niemand an, und wenn sie mit den Bildern nach Hause kam, war Mary die einzige, die etwas dazu sagte. Eines Tages nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte ihren Vater, ob sie zur Kunsthochschule gehen könne. Er antwortete: »Warum nicht. Wenn du in der Schule nicht nachlässt und dich zuhause benimmst.« Alice rief sich sein Versprechen seitdem jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen beim Aufwachen in Erinnerung.
Sie konnte nicht glauben, dass er zugestimmt hatte. Normalerweise lehnte er ihre Bitten ab. Abgesehen von Mary schien die ganze Familie Alice für egoistisch zu halten. Sie dachten, dass sie mehr verlange, als ihr bestimmt sei.
Sie fühlte sich zu erlesenen Dingen hingezogen und wusste sie sich bisweilen zu beschaffen. Manchmal bestellte sie ein Kleid aus dem Katalog von Lord & Taylor, Zahlung bei Lieferung. Wenn der Bote dann kam, rannte sie die Treppe hoch und sah vom Treppenabsatz aus zu, wie einer ihrer jüngeren Brüder, Timmy, Jack, Michael oder Paul, mit dem Lieferjungen stritt. Hier habe keiner ein verdammtes Kleid bestellt, und sie würden es auch ganz bestimmt nicht bezahlen.
Irgendwann hörte sie eine Stimme rufen: »Alice! Weißt du was von einem Kleid?«, und sie rief zurück: »Ein Kleid? Du machst wohl Witze.« Die Unschuld in Person.
Der Lieferjunge war unnachgiebig und bestand hartnäckig darauf, dass er die richtige Adresse
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