Sommer in Maine: Roman (German Edition)
hatte. Er wusste, was ihn erwartete, wenn er ohne das Geld zurückkam. Bei zwei dieser Gelegenheiten war einer der Brüder so durcheinander gekommen, dass er tatsächlich bezahlt hatte, und Alice war zu einem nagelneuen Kleid gekommen, frei Haus und umsonst.
Eigentlich wusste sie, dass sie sündigte, wenn sie für sich ein besseres Leben einforderte. Das hatte ihre Mutter ihr oft genug gesagt, und auch die Bibel pries Bescheidenheit und Aufopferung. Sie hatte ein Zitat aus dem Brief an die Philipper auf die Innenseite ihrer Nachttischschublade geschrieben. Wenn sie abends den Rosenkranz nach dem Nachtgebet weglegte, las sie dort langsam die Worte: Nichts tut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demut achte einer den andern höher denn sich selbst.
Wenn es nur so einfach wäre. Alice glaubte, dass Gott sie durch seinen Sohn erretten würde, wenn sie sich mehr Mühe gab und mehr betete. Sie betete dafür, so selbstlos und wunschlos wie ihre Schwester zu werden. Aber ihr Egoismus war ein Teil von ihr, genau wie Marys Güte ein Teil ihrer Schwester war.
Wenn Mary einmal ein neues Kleid bekam, gab sie es der Caritas, anstatt es selbst zu tragen. Einmal hatte Mary zwölf Stunden auf die Nachbarskinder aufgepasst und war dafür mit einem hartgekochten Ei bezahlt worden. Alice war außer sich, aber Mary sagte nur: »Vielleicht haben sie einfach nicht mehr.«
Mary war ein unscheinbares Mädchen. Sie trug zur Schule immer den gleichen langen, grauen Baumwollrock und eine schlichte, altmodische Bluse. Mary ging nicht aus, und wenn Alice und ihre Freundinnen mit ein paar Jungs aus der Schule Eis essen gingen, saß sie mit einem Buch zuhause. Alice fragte Mary jedes Mal, ob sie diesmal nicht mitkommen wolle, und verlangte von den Jungen, mit denen sie ausging, sogar, dass sie auch für Mary einen Begleiter fanden. Aber Mary lehnte ab.
»Ich will nicht, dass mich einer aus Mitleid ausführt«, sagte sie. »Außerdem sind die alle viel jünger als ich. Ich käme mir lächerlich vor.«
Wenn Alice abends nach Hause kam, schlich sie sich in das gemeinsame Schlafzimmer, in dem schon kein Licht mehr brannte, zog sich leise die Strumpfhosen aus und hörte Marys Flüsterstimme: »Und, wie war’s?«
Alice hoffte, ihre Geschichten würden Mary Lust machen, aber die sagte immer nur: »Mensch, ich hätte in deiner Lage gar nicht gewusst, wie ich hätte reagieren sollen.«
Wenn Mary schlief, betete Alice für sie: Mach, dass meine Schwester aus ihrem Schneckenhaus kommt. Mach, dass sie glücklich wird.
Nach der High School bekam Mary eine Stelle im Schreibbüro der Versicherungsgesellschaft Liberty Mutual und konnte von nun an mehr Geld nach Hause bringen. Die Eltern freuten sich, aber Alice, die noch zur Schule ging, dachte, dass sie bei so einer Arbeit vor Langeweile umkommen würde. Außerdem fand sie, dass das Geld, das ihre Schwester verdiente, Mary zustand und sonst niemandem. Was sie beide mit Marys Gehalt alles hätten machen können! Aber wenn sie mit ihrer Schwester darüber sprach, sagte die nur: »Aber ich würde das Geld doch nicht für mich ausgeben!« Dann fühlte Alice sich mies.
Seit sie arbeitete, hatte Mary weniger Zeit für Alice. Deshalb holte Alice ihre Schwester freitags oft von der Arbeit ab. Dann gingen sie ins Kino oder teilten sich im Park ein paar belegte Brote. Manchmal konnte sie Mary überreden, bevor sie sich auf den Heimweg machten, noch ein Bier in einer Kneipe zu trinken.
Zwei Jahre später, kurz nachdem Alice die Schule abgeschlossen hatte, kam ihre Mutter in ihr Zimmer und sagte, sie solle sich fertigmachen: »Wir suchen dir heute Arbeit in der Stadt.«
Alice schüttelte den Kopf: »Papa hat gesagt, dass ich zur Kunsthochschule gehen kann.«
Ihre Mutter seufzte und sagte mit gesenkter Stimme: »Sei nicht kindisch, Alice. Du weißt genau, dass dein Vater das nicht ernst gemeint hat. Das können wir uns doch gar nicht leisten.«
Wenig später hatte Alice eine ihr verhasste Arbeitsstelle in der muffigen Kanzlei von Weiner und Kristal, zwei aufgeblasenen, kugelrunden Kahlköpfen, deren Anrufe sie entgegennahm und für die sie Kaffee kochte. Sie überstand die Arbeitstage dort nur, weil sie einen Teil ihres Einkommens beiseite schaffte (sie hatte ihrer Mutter nicht gesagt, wie viel sie wirklich verdiente) und zwischendurch Karikaturen auf die Rückseite des Notizblocks zeichnete: Weiner hinter den Gittern des Affenkäfigs vom Franklin Park Zoo und Kristal, der auf einem Piratenschiff
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