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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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ihm essen gehe.«
    »Aber warum hat man ihn noch nicht eingezogen?«, fragte Alice misstrauisch. »Er ist doch kein alter Knacker, oder?«
    »Er ist dreißig«, sagte Mary.
    »Dreißig! Meine Güte, das ist ja uralt. Aber trotzdem: Warum ist er nicht im Krieg?«
    »Man hat ihn ausgemustert«, sagte Mary.
    Genau wie Frank Sinatra. Ihr Bruder Timmy hatte gesagt, dass er allen Respekt für Sinatra verloren habe, seit der sich gedrückt hatte (»Hör dir die Stimme an! Klingt so etwa jemand mit einer Trommelfellverletzung?«)
    Dieser Henry ist bestimmt ein Feigling , dachte Alice. Ein feiger, plattfüßiger Schwächling.
    »Weißt du, weshalb er ausgemustert wurde?«, fragte sie.
    »Es gab einen Busunfall, als er noch auf Harvard war«, sagte Mary. »Seitdem hinkt er ein bisschen.«
    Alice spitzte die Ohren: »Harvard?«
    Sie sah, dass Mary sich ein Lächeln verkneifen musste. »Ich glaube, er kommt aus einer ziemlich reichen Familie.«
    Die beiden waren für Freitag verabredet, und Alice kam mit, weil Henry einen Begleiter für sie mitbringen wollte. Richard war eine Enttäuschung: Er war zu alt, hatte gelbe Zähne und Schweißflecken unter den Armen und zog alle paar Minuten die Taschenuhr hervor, als wolle er betonen, dass ihr Desinteresse auf Gegenseitigkeit beruhte. Das vereinfachte die Lage zwar, aber Alice war dennoch beleidigt. Eigentlich aß sie beim ersten Treffen mit einem jungen Mann grundsätzlich nichts, aber diesmal bestellte sie sich zu ihrem Martini ein Steak.
    Henry hinkte wirklich, und Alice war sich nicht sicher, ob sie das an Marys Stelle akzeptieren würde. Außerdem hatte er schon ein paar graue Haare, aber im Großen und Ganzen sah er für sein Alter ganz gut aus. Er arbeitete für seinen Vater, einen Magnaten in der Frachtschifffahrt, und würde irgendwann das Unternehmen übernehmen. Alice beobachtete genau, wie er mit Mary umging. Was er wohl an ihr fand? Sie war nicht besonders hübsch, aber Henry starrte sie den ganzen Abend an. Er lachte über ihre Witze und bestellte für sie, wenn die Kellnerin kam.
    Als Henry Alice nach ihrem Beruf fragte, warf Mary dazwischen: »Sie ist Malerin. Sehr talentiert. Du musst dir ihre Arbeiten ansehen.«
    »Das würde mich auch interessieren«, sagte der Blindgänger Richard aus seinem Koma erwachend. »Ich sammle Arbeiten von Nachwuchskünstlern.«
    Später stellte sich heraus, dass Richard vom anderen Ufer war. Das verriet er Alice nach ein paar Cocktails im Flüsterton. Drei Tage darauf verkaufte Alice ihm ihr erstes Bild. Eine Romanze mit Richard hätte ihr niemals so viel Freude bereiten können, wie der Augenblick, in dem er ihr vor dem Hauseingang das Geld aushändigte. Vielleicht würde man hier einst eine Gedenktafel anbringen: IN DIESEM HAUS LEBTE VON 1921 BIS 1941 DIE MALERIN ALICE BRENNAN.
    »Sehr gut«, sagte Richard mit einem Blick auf das Gemälde. Dann senkte er die Stimme, als könnte sie jemand belauschen. »Hör mal, Alice. Ich vergöttere Henry Winslow seitdem wir im ersten Collegejahr Zimmergenossen waren. Trotzdem muss ich dich bitten, auf deine Schwester aufzupassen. Sie ist ein nettes Mädchen, und er ist leider ein ziemlicher Herzensbrecher.«
    »Was soll das heißen?«, fragte sie und wollte am liebsten gleich zu Henry gehen und ihm eine scheuern.
    Er schüttelte den Kopf. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Halt einfach die Augen auf.«
    Mary und Henry waren innerhalb weniger Wochen unzertrennlich. Er führte sie zum Essen aus und sie gingen tanzen. Mary hatte plötzlich ein ganz neues Selbstbewusstsein. Sie legte ihr Haar in Wellen, kleidete sich modisch, rieb sich die blassen Wangen und tat einfach all das, wozu Alice ihr jahrelang erfolglos geraten hatte.
    An guten Tagen freute Alice sich, dass ihre Schwester jemanden gefunden hatte und vor Glück strahlte. Aber oft plagte sie der Neid. Henry selbst wollte sie nicht, aber doch jemanden wie ihn, vielleicht ein bisschen gutaussehender und jünger. Henry veränderte alles. Mary hatte immer weniger Zeit, und Alice tüftelte in der Straßenbahn oder bei der Arbeit manchmal an Plänen, um die beiden zu trennen. Aber dann dachte sie beschämt daran, dass ein Ende dieser Beziehung ihrer Schwester das Herz brechen würde und sprach ein Vaterunser.
    Sechs Monate später hatte Henry Mary seiner Familie noch immer nicht vorgestellt, und sie litt darunter. Er sagte, dass er auf den richtigen Augenblick warte, aber Mary war sich sicher, dass mehr dahintersteckte. Alice erinnerte sich an

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