Sommer in Maine: Roman (German Edition)
– es sei denn, man hatte wirklich und ehrlich vor, zu heiraten. Absolutes Alkoholverbot während der Fastenzeit – es sei denn, man war in einem anderen Bundesstaat.
In den letzten paar Jahren hatte sie die Kirche zu verabscheuen gelernt. Sie kannte einen der Jungs persönlich, die als erwachsene Männer mit gesenktem Kopf in den Bostoner Nachrichten erschienen und ihre Misshandlung im Ministrantendienst durch Priester öffentlich machten. Sein Name war Robert O’Neill. Er war Kathleens Klassenkamerad in der Grundschule gewesen. Sie rief sich den kleinen Jungen von damals ins Gedächtnis: Sommersprossiges Gesicht, Cordhosen, Strickpulli, Zahnlücke. Kathleen kochte bei der Vorstellung, was für ein Albtraum der Alltag dieses kleinen Jungen gewesen sein musste. Es habe sein Leben zerstört, hatte er in einem Interview gesagt: Seine Frau und er hätten sich entfremdet und er traue sich nicht, seine eigenen Kinder auf den Schoß zu nehmen.
Alices Pfarrei war vor zwei Jahren geschlossen worden, und sie hatte um sie wie um einen geliebten Menschen getrauert. Die ganze Sache hatte Kathleen sehr leidgetan, denn sie konnte sich vorstellen, was es bedeutete, die Gemeinschaft zu verlieren, die man als den wichtigsten Teil seiner Selbst empfindet. Aber man durfte ja auch nicht die Gründe für den Ruin der Gemeinde ihrer Mutter und dutzender anderer vergessen. Das Erzbistum Boston hatte das Geld für die hohen Anwaltskosten im Zusammenhang mit den Anschuldigungen an ihre Priester kaum aufbringen können. Kathleen versuchte, dieses Thema mit ihrer Mutter anzusprechen, aber Alice wollte davon nichts wissen. Obwohl vor ihrer Kritik sonst nichts und niemand sicher war, weigerte sie sich kategorisch, an der katholischen Kirche irgendetwas Schlechtes zu sehen.
Kathleen hatte die Religiosität ihrer Mutter früher für aufgesetzt gehalten: Eine von Alices vielen Selbstdarstellungstechniken. Muss sie wirklich täglich in die Kirche gehen? Und auch noch mit diesem albernen weißen Kopftuch? Kathleen dachte, dass ihre Mutter das nur tat, um ihren Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen.
Aber dann hatte Onkel Timmy ihr bei einem Ostertreffen von einem Heimaturlaub zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt. Er hatte zuhause vor Alice und seinen anderen Geschwistern damit angegeben, dass Marlene Dietrich in Italien eine Vorstellung für sein Bataillon gegeben hatte.
»Ich war als erster der Brüder in den Krieg gezogen«, erzählte Onkel Timmy. »Die andern Jungs waren bisher zuhause geblieben, aber uns war klar, dass auch sie bald dran sein würden. Ich wollte ihnen ein bisschen Mut machen. Das war vor Marys Tod«, fügte er hinzu. Eines der wenigen Male, dass ein Familienmitglied die verstorbene Schwester erwähnte. »Also hab ich ausführlich von Marlene Dietrichs Figur geschwärmt. Aber sie war auch ein guter Mensch, weißt du: eine Deutsche, aber gegen Hitler. In Deutschland waren ihre Filme verboten. Na egal, jedenfalls hab ich dann lang und breit erzählt, wie sexy sie war und auch, wie wir uns bei der Vorstellung gegenseitig mit Ideen übertrafen, was man in fünf Minuten alleine mit Marlene Dietrich alles so machen könnte. Ich gebe zu, dass ich damit zu weit gegangen bin, aber meine Brüder haben mich angestachelt. Wir waren alle verrückt nach ihr.«
Kathleen versuchte, sich ihre glatzköpfigen Onkel als eine Horde brünstiger Jungs vorzustellen.
»Jedenfalls sagte Alice irgendwann: ›Was meinst du damit? Was würdet ihr denn machen?‹ und dann meinte Mary: ›Na du weißt schon, sie würden sich mit ihr vergnügen.‹«
Er hielt inne und griff nach seinem Glas. Das war alles, was Kathleen je von ihrer Tante gehört hatte. Nirgends stand ein Foto von ihr und niemand erwähnte sie in den Geschichten von früher. Sie hätte so gern mehr gewusst.
»Tja«, fuhr Tim fort, »und dann rannte Alice plötzlich weinend aus dem Zimmer.«
»Warum das denn?«
»Wussten wir auch nicht. Ich dachte, die Geschichte würde ihr gefallen, schließlich war sie verrückt nach Filmstars. Wir ignorierten sie einfach. Sowas war bei unserer melodramatischen Alice nichts Neues. Aber am nächsten Tag erzählte sie mir, dass sie die ganze Nacht für mich und meine Kameraden gebetet habe. Sie glaubte wirklich, dass wir für unsere Fantasien in die Hölle kämen.«
»Wie alt war sie da?«
»So um die zwanzig. Weißt du, sie war so unschuldig«, sagte Onkel Tim. »Sie flirtete zwar, aber ohne zu wissen, was sie da eigentlich tat. Sie gab
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