Sommer in Maine: Roman (German Edition)
vor, ein Leben als unverheiratete Frau vorzuziehen, aber wenn du mich fragst, hatte sie einfach Angst vor der Ehe. Wenn man sie so sieht, glaubt man es gar nicht, weil sie so anstrengend sein kann und sich immer so aufspielt, aber in Wirklichkeit hat sie sich nicht verändert: Sie hat immer auf Gottes Hilfe gewartet. Soweit ich weiß, ist sie, seit ich und meine Brüder damals in den Krieg zogen, jeden Tag in die Kirche gegangen. Sie möchte wirklich ein guter Mensch sein.«
Kathleen begriff, dass die Kirche Alice als Forum diente. Hier benahm sie sich und wurde als die Person wahrgenommen, die sie sein wollte. In den Jahren in St. Agnes hatte Alice die Sonntagsschule organisiert und Spendenaktionen auf die Beine gestellt, sie hatte für die pensionierten Pfarrer Geld gesammelt und den Weihnachtsbasar geschmissen. In der Gemeinde hatte niemand eine Ahnung davon, zu welchen Grausamkeiten sie zuhause fähig war. Dort war sie eine Heilige.
Sie möchte wirklich ein guter Mensch sein.
An diese Worte hatte Kathleen auch bei der Beerdigung ihres Vaters gedacht. Sie hatte gesehen, wie Alice den Priester angestarrt hatte, als erwarte sie von ihm eine Erklärung oder eine Antwort. Kathleen beneidete ihre Mutter um ihren Glauben, ganz besonders in diesem Augenblick.
Dass er nicht mehr lange leben würde, hatte er ihnen in Maine mitgeteilt. Es war das letzte Mal, dass Kathleen dort gewesen war, und vermutlich würde sie auch nie wieder hinfahren. Die ganze Familie war am verlängerten Wochenende um den Labour Day in Maine zusammengekommen. Diesmal verstanden sie sich außergewöhnlich gut: Es gab kaum Streit, es wurden keine bösen Worte gewechselt und es kam nicht vor, dass jemand (normalerweise war es Kathleen) wütend das Zimmer verließ und sich in einem Motel einmietete. Ann Marie und Alice hatten einen großen Grillabend vorbereitet mit Steak, Maiskolben, Kartoffelsalat und Gurken und Tomaten aus dem Garten. Später rösteten die Kinder auf der Veranda Marshmallows über der Asche, wie auch ihre Eltern es als Kinder getan hatten.
Daniel legte eine Hand auf Kathleens Schulter und sagte: »Drehst du ’ne kleine Runde mit mir?«
Sie gingen zum Strand hinunter, Kathleen blickte zum Sommerhaus zurück und dachte, dass augenblicklich alles perfekt war. Die Sonne war gerade untergegangen, und die ganze wilde, verrückte Familie war auf dem Fleckchen Erde versammelt, den sie alle mehr als jeden anderen liebten. Patrick, Ann Marie, Clare und Joe hatten es sich mit einem Bier in den Liegestühlen bequem gemacht, und die Kinder standen um den Grill herum. Alice hatte schlechte Laune, rannte hin und her und sammelte verärgert Servietten und Pappteller auf, aber das beachtete keiner.
»Wie läuft’s mit der Abstinenz?«, fragte ihr Vater. Diese Frage stellte er ihr bei fast jedem Familientreffen, obwohl sie seit fünfzehn Jahren trocken war.
»Gut, Papa.« Ob er Alice diese Frage noch stellte? Vermutlich nicht. Alice hatte keine andere Wahl gehabt, als mit dem Trinken aufzuhören, und das verübelte sie ihrem Mann.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte er.
Sie gingen bis ans Ufer, er streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich von den Wellen umschmeicheln.
»Was für ein schöner Abend«, sagte er, und bevor sie noch antworten konnte, fügte er hinzu: »Ich muss dir etwas sagen, mein Sonnenschein.«
»Ja?«, antwortete sie, aber sie war mit den Gedanken woanders und dachte, wie schön es war, hier zu sein, und dass es auf der Welt keinen Ort gab, von dem aus man so viele Sterne sah.
»Ich werde bald sterben«, sagte er dann einfach. »Ich habe Krebs.«
Einen Moment lang hielt sie das für einen seiner dummen Scherze.
»Das ist nicht komisch«, sagte sie, doch als sie ihm in die Augen blickte, sah sie dort zum ersten Mal in ihrem Leben Tränen.
Ihr Herz raste: »Meinst du das ernst?«
»Seit Dienstag steht es fest«, sagte er. »Mein Arzt hat mich vor zwei Wochen zu den Tests geschickt und ehrlich gesagt habe ich es da schon geahnt. Ich hatte gehofft, dass ich falsch liege. Aber ich habe natürlich recht gehabt. Wie immer.«
Er blinzelte ihr zu.
»Papa«, sagte sie. »Was für eine Art Krebs ist es?«
»Bauchspeicheldrüse. Wie bei Onkel Jack.«
Ihr wurde schwindelig. »Wie hat es angefangen?«
»Erinnerst du dich, dass ich mal Schmerzen in der Brust erwähnt habe?«
»Ja.«
»Das wurde immer schlimmer. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und spürte diesen Schmerz von unterhalb der Brust bis durch zum
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