Sommer mit Nebenwirkungen
es war die Müdigkeit nach dem Erreichen des Ziels – um diese Quelle drehte sich alles, an dieser Quelle hing jetzt all ihre Hoffnung. Der Himmel über ihr war leuchtend blau, es würde ein schöner, warmer Tag werden. Aber noch lag alles im Schatten. Sophie schloss die Augen und ließ sich vom Plätschern berieseln. Ein so regelmäßiges Geräusch und doch wiederholte es sich nicht – mal schien das Wasser so, mal so aufzukommen, der Klang veränderte sich, doch er riss nie ab. Sie spürte das kühle Holz im Rücken, Müdigkeit übermannte sie. Ihre Gedanken drifteten ab und trieben schließlich auf einen ganz bestimmten Punkt zu. Sie verhinderte es zum ersten Mal seit vielen Monaten nicht.
»So fühlt sich also ein Schicksalsschlag an.« Das war ihr allererster Gedanke gewesen, als sie aus der Narkose erwacht war. Plötzlich waren all die verdrängten Details wieder da. Sie war auf der Aufwachstation nicht langsam zu sich gekommen, sondern schlagartig aufgewacht. Mit offenen Augen lag sie auf der Liege und starrte die Klinikdecke an. Nicht Trauer oder Verzweiflung waren das alles bestimmende Gefühl, sondern eine tiefe Mattigkeit. Ihre Gefühle wirkten gedämpft, wie in Watte verpackt. Alles war pappig. Sogar der Geschmack im Mund.
Irgendwann machte sie eine Bewegung. Als Erstes hob sie die linke Hand und entdeckte die Kanüle für das Betäubungsmittel, die noch darin steckte, »gleich wird es kalt«, hatte sie den Anästhesisten vor der OP noch sagen hören, bevor alles schlagartig schwarz geworden war. Eine Weile starrte sie nun die Kanüle an, dann zwang sie sich, sich aufzusetzen. Das Liegen missfiel ihr. Liegend kam sie sich hilflos vor. Aber sie war nicht hilflos, sie war keine kranke Frau. Ja, sie hatte sehr früh ein Kind verloren, aber sie war nicht krank. Sitzend fühlte sie sich besser, der Situation gewachsener. Nicht, dass jemand davon Notiz nahm. Wie auch? Vorhänge an drei Seiten trennten ihre Liege vom Rest der Aufwachstation, an der vierten Seite befand sich eine Wand. Sie lehnte sich mit dem Kopf daran, der Stein kühlte angenehm. Es dauerte eine Weile, bis ihr aufging, dass das orange Muster auf den Vorhängen kein abstraktes war. Sie war von einem Wald aus Korallen umgeben. Sie griff nach dem Stoff, der sich teuer anfühlte. Alles in dieser Fruchtbarkeits-Klinik wirkte teuer, hier machte man Geld.
Warum, hatte sie damals gerätselt, ausgerechnet Korallen? Sicher wollte man den Frauen, die hier lagen, Hoffnung machen. Fahr weit weg, lautete die Botschaft, erhol dich von diesem Stress in einem karibischen Paradies, wo der Himmel immer blau ist und die Sonne immer scheint. Man kann es ja noch einmal versuchen. Beim nächsten Mal … Hier in der Klinik machten sie einem ständig Hoffnung, dass es ein nächstes Mal gab. Wir haben noch viele Optionen, Frau Kaltenbrunn: Wir erhöhen die Dosis, verändern das Hormon, verabreichen es anders, starten einen In-vitro-Versuch.
Dann hatte sie das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum gehört, die raschen, energischen Schritte einer Schwester. Mit einem Ruck war der Korallenvorhang aufgerissen worden.
»Na, Frau Kaltenbrunn, wir sind ja schon wach«, hatte die Schwester gesagt.
»Von wir kann ja nun nicht mehr die Rede sein …«, hatte Sophie daraufhin gemurmelt, was ihr einen missbilligenden Blick der Schwester eingetragen hatte.
Sophie öffnete die Augen. Das Quietschen der Gummisohlen, das war doch nicht nur Erinnerung gewesen. Sie hörte wirklich ein Quietschen. Und Schritte. Schnell setzte sie sich auf. Es war genau wie damals.
»Was sind Sie nur für ein sonderbarer Gast?«, sagte Nick Knatterton, und wieder konnte Sophie nicht ausmachen, ob er amüsiert oder verärgert war. Der Kerl verschanzte sich regelrecht hinter seinem Dreitagebart. Das Quietschen konnte sie sich nun erklären, er schob nämlich eine Schubkarre vor sich her. Darin zählte Sophie zehn leere, große Wasserkanister. Knatterton stellte nun die Schubkarre ab und begann, die Kanister vor das Gitter zu stellen. Gleichzeitig redete er weiter: »Ich finde Sie an den unmöglichsten Stellen wieder. Haben Sie hier etwa übernachtet?« Meckerte er, oder machte er sich über sie lustig?
»Guten Morgen, Herr von Studnitz«, antwortete Sophie, nahm die Beine von der Bank und setzte sich normal hin. »Natürlich habe ich nicht hier geschlafen. Übernachtet habe ich brav in meinem Zimmer, der Nummer 13.«
»Dann ist es ja gut«, sagte er. Als er mit dem Ausladen fertig war, zog er
Weitere Kostenlose Bücher