Sommer mit Nebenwirkungen
Telefon wählte sich umständlich ein. Vom Weg waren plötzlich Stimmen zu hören, Kinderstimmen und die Stimme einer Frau. Jetzt sah sie die siebenköpfige Familie kommen, der Vater hatte sein Handy gezückt, hielt es in die Luft und schüttelte verärgert den Kopf. Tja, mein Lieber, dachte sie, du musst auf die Wiese zu den Schafen. Die Kinder hüpften schon ungeduldig vor dem Gatter hin und her. Der Mann sah zu Sophie herüber, merkte, dass der Stein schon besetzt war, und wirkte noch verärgerter. Es gab ein kurzes, vorwurfsvolles Hin und Her mit seiner Frau, bis die resigniert mit den Schultern zuckte. Trug der etwa einen Wollschal um den Hals? Tatsächlich, einen dicken, gestrickten Wollschal, wie er letzten Winter in Mode gewesen war. Aber jetzt, im Sommer? Als sie vom Hotel losgegangen war, hatte das Thermometer schon achtundzwanzig Grad gezeigt. Womöglich plagten den Mann Halsschmerzen.
Johlend liefen die Kinder auf die Wiese. Die Schafe flüchteten verschreckt, und Sophie musste grinsen. Das war viel besser als eine Hochdruck-Wasserpistole.
Die Verbindung stand. Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal. Gleich würde der Anrufbeantworter rangehen. Sophie zog an der Zigarette, weil sie spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg. Geh ran, Johann, dachte sie. Er war diesen ganzen AB-Mist so gewohnt, man hinterließ sich Nachrichten und rief dann einfach eine halbe Stunde später zurück. Aber hier oben ging das nicht. Sie würde nicht den ganzen Tag auf diesem Stein hocken und darauf lauern, dass ihr Verlobter so freundlich war, sich bei ihr zurückzumelden. Dies war seine Chance. Entweder er ging jetzt ran oder …
Das Gespräch wurde angenommen. »Endlich«, hörte sie Johann sagen. Sie merkte gleich, dass er vorwurfsvoll klang. Schon der zweite Vorwurfsanruf heute. Schnell trat Sophie die Zigarette aus, denn Johann mochte es nicht, wenn sie rauchte. Natürlich konnte er nicht hören, ob sie eine Zigarette in der Hand hielt. Aber so ganz sicher war sie sich nicht.
»Hier oben habe ich keinen Empfang. Zumindest nicht im Hotel. Ich hocke im Moment auf einem Stein auf einer Schafswiese …«, legte Sophie los und klang dabei defensiv. Diese Scheiß-Zigarette. Immer plagte sie danach ein schlechtes Gewissen.
»Schafswiese?«, unterbrach Johann sie. Kindergejohle lag über der Wiese, von der Herde hörte man nichts. Die drängte sich weit oben am Hang eingeschüchtert in eine Ecke, während die Kinder ungestüm um sie herumtobten. Die Mutter versuchte mit großer Gestik, ihre Kinder zu beruhigen. Und der Vater, was machte der? Sophie schaute hinüber und glaubte kaum, was sie sah. Wie ein gewaltbereiter Autonomer, der nicht von der Polizei erkannt werden will, hatte er sich den Schal um den Kopf gewickelt. Was zum Teufel …? »Ich sehe gerade etwas sehr Unheimliches …«, setzte Sophie neu an und wollte von dem Vater unter dem Schal erzählen, aber wieder wurde sie von Johann unterbrochen.
»Gestern habe ich mit Dr. Kemper telefoniert«, sagte er in eindringlichem Ton. »Er hält es für einen riesigen Fehler, was du da gerade veranstaltest. Frauen wie du seien anfällig für unseriöse Methoden, weil sie Hoffnung wecken. Aber das sei nur vergeudete Zeit. Dr. Kemper betonte mehrmals, dies seien deine letzten guten Jahre. Noch bist du nicht vierzig. Auf die Hormontherapie hättest du wirklich gut angesprochen, deine Werte seien immer besser geworden. Er meinte, du solltest dir die Fehlgeburt nicht so zu Herzen nehmen; das Kind habe nie richtig gelebt. Er rät dir dringend, nach Berlin zurückzukehren und seine Klinik aufzusuchen, damit wir alle Behandlungen wieder aufnehmen können. Die Hormontherapie oder die In-vitro-Methode seien die einzigen Wege, die Erfolg versprächen. Alles andere sei Scharlatanerie.«
Er machte eine Pause und atmete durch. Sophie hatte die Wiese, die Kinder, den Schalvater und die Schafe völlig vergessen. Sie saß auf ihrem Stein, schaute nach unten und malte mit dem großen Zeh, der aus ihrer Sandale schaute, Kringel in den staubigen Boden.
»Komm zurück nach Berlin«, sagte Johann. Er sagte nicht: Komm zurück zu mir.
Sie hörte die Worte, doch sie berührten sie nicht. Johann schien so weit weg, Berlin noch weiter. Sie spürte, wie ihre Schultern sich versteiften, als trüge sie einen Panzer.
»Es ist das Wasser«, sagte Sophie nur.
»Hä, welches Wasser?«, fragte Johann irritiert.
»Hier oben entspringt eine Quelle. Und es heißt, das Wasser mache unfruchtbare Frauen
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