Sommerferien in Peking
lesen. Ab und zu schreibt er mit Bleistift sorgfältig Kommentare zu Mamas Artikeln an den Rand.
Tante Bin bekommt erst mal ein paar originale englische Romane, die momentanen Bestseller. Sie streichelt mit leuchtenden Augen über die Titelseiten und murmelt: »Oh wie schön! Die finde ich hier nicht so leicht ...«
Als ich Tante Bin anschließend den neuen Bikini in die Hand gebe, versteckt sie ihn gleich vor den anderen.
»Gefällt dir der Bikini nicht, Tante Bin?«, wundere ich mich. Aber sie wirft mir nur einen bedeutungsvollen Blick zu und zeigt, dass ich nicht weiter darüber reden soll. Sie sieht sehr erleichtert aus, als Lao Ye weiter in den Zeitungen von Mama liest. Er scheint nichts davon bemerkt zu haben. Und wenn doch, so lässt er sich zumindest nichts anmerken.
Dann sagt Tante Bin laut, dass sie auf dem Computer von Lao Ye Skype für mich installieren möchte.
Als wir allein in Lao Yes Arbeitszimmer sind, schaut Tante Bin den Bikini doch genauer an und sagt ganz fröhlich: »Die neue Kollektion aus Paris! Deine Mama ist wirklich ein Schatz! Ich kann ihn im Urlaub im Ausland anziehen.«
Ich finde das lustig: »Willst du ihn denn nicht hier anziehen?« Tante Bin schmunzelt: »Auf keinen Fall! Lao Ye und Lao Lao werden bestimmt sagen: ›80 Euro für so wenig Stoff? Seid ihr verrückt geworden?‹« Dabei rümpft Tante Bin die Nase und macht ziemlich frech Lao Ye nach: »Wenn du so nackt ins Schwimmbad gehst, darfst du nie wieder nach Hause kommen!« Sie zwinkert mir zu und sagt schließlich: »Die Chinesen sind nämlich in manchen Sachen sehr schüchtern.«
Das kann sie natürlich laut sagen. Als wir das erste Mal in Deutschland ins Schwimmbad gegangen sind, wollte Mama auch die Sauna besuchen. Aber nach ein paar Sekunden ist sie schon wieder herausgerannt. Aufgeregt sagte sie zu Papa: »Kannst du das glauben? Es sind zwei nackte Männer in der Sauna!«
Sie konnte sich kaum beruhigen. Papa musste ihr erklären, dass eine gemischte Sauna in Deutschland ganz normal ist. Mama ging schließlich doch noch in die Sauna, aber sie trug dabei ihren Badeanzug und hielt die meiste Zeit über beide Augen fest geschlossen. Sie geht seitdem immer mit Badeanzug in die Sauna, auch wenn er dadurch viel schneller kaputt geht.
»Fertig!«, verkündet Tante Bin und dreht sich schwungvoll auf dem Computerstuhl um. »Es gibt sechs Stunden Zeitunterschied zwischen China und Deutschland. Das heißt, du kannst mit Skype sofort Mama und Papa in Deutschland anrufen.«
Meine Eltern sind gerade aufgestanden. Cool! In Peking ist jetzt aber schon Nachmittag. Ich habe sozusagen eine kleine Zeitreise gemacht. Lao Ye und Lao Lao bekommen große Augen: Wir können durch Skype sogar Mama, Papa und Ricky auf dem Bildschirm sehen!
Ricky legt seinen Kopf schräg und fragt skeptisch: »Lisa, wo bist du?«
»Ich bin natürlich in China, Dummköpfchen«, antworte ich kichernd.
Bevor ich ins Bett gehe, schenkt mir Lao Lao einen neuen Pyjama aus echter Seide. Er hat die Farbe von Lavendel und ist sogar dünner und leichter als Papier!
»Der passt dir wirklich super. Genau das Richtige für so einen heißen Sommer!« Lao Lao schaut mich zufrieden an. Das stimmt: Einen kühleren und bequemeren Pyjama gibt es bestimmt nicht.
Ganz müde und schläfrig liege ich im Bett. Draußen flimmern immer noch Lichtreklamen, aber der Lärm der Autos ist leiser geworden. Laute Stimmen dringen jetzt von der Straße herauf zu mir ins Zimmer: Ein paar Leute verabreden sich für morgen Abend zum Karaoke. Endlich hat Peking mich wieder, denke ich verträumt. Dann höre ich, wie Lao Lao Mi Mi ein Schlaflied singt:
»Silberfluss am blauen Himmel,
Kleines Boot mit weißem Segel,
Süße Blüten friedlich duftend,
Jadehase sorglos spielend,
Kleines Boot mit weißem Segel,
Ostwärts nach Hause schwebend.«
Ich halte meinen Tiger Lily fest im Arm und schlummre langsam ein.
Ich schlafe wie ein Stein.
Feuer und Bambus
Erst als mich die Sonne in der Nase kitzelt, wache ich auf. Als ich ein paarmal blinzle, bemerke ich, dass zwei schwarze strahlende Augen in meine starren – so nah, dass die sie umrahmenden Wimpern fast mein Gesicht berühren.
»Träume ich noch?«, wundere ich mich.
Die schwarzen Augen blinzeln jetzt aufgeregt.
»Lisa ist aufgewacht!«, ruft Mi Mi fröhlich ins Wohnzimmer, während sie vor meinem Bett auf- und abspringt.
»Ach, Mi Mi«, sage ich und reibe verschlafen meine Augen. Mi Mi dreht sich wieder zu mir: »Lisa, du bist
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