Sommerferien in Peking
liegt, wimmelt es nur so von Menschen. »Der Löwentanz!«, rufe ich aufgeregt und versuche, mich durch die Menschenmassen hindurchzuzwängen, um nach vorne zu kommen. Aber das ist nicht einfach: Hunderte von Menschen sind hier versammelt. Und alle wollen den Löwentanz sehen. Gerade als ich aufgeben will, »fliege« ich plötzlich in die Luft – Onkel Peter hebt mich auf einen großen Stein. Von hier oben kann ich alles viel besser sehen.
Es tanzen gerade zwei goldene »Löwen« im Kreis herum. Ein Herr in einem gelb-roten Seidenkostüm hält einen goldenen Ball in die Luft und beide »Löwen« versuchen, ihn zu erwischen: Sie stellen sich auf die Hinterbeine, hüpfen, stürzen, beißen ... Ein paar Mal hätten die »Löwen« es fast geschafft. Aber der Herr, ihr Meister, lässt den Ball nicht los. Es kommen immer mehr »Löwen« und die Musik wird immer spannender. Als der Meister den Ball einmal in die Luft hochwirft, springt ein »Löwe« sogar auf die Rücken der anderen ... Jetzt hat er den Ball mit dem Maul aufgefangen. Voller Begeisterung klappert er mit seinen großen Augen und wackelt im Takt der Trommelschläge mit seinem Kopf. Die Zuschauer schreien laut »Bravo!« und brechen in schallendes Gelächter aus.
Onkel Peter hat inzwischen schon ein paar Fotos gemacht.
Jetzt habe ich gesehen, dass jeder »Löwe« von zwei Tänzern gespielt wird: Einer steht vorn und hält den Löwenkopf und der andere hält sich an seinen Hüften fest. So bekommt der Löwe zwei Hinterbeine und einen Rücken. Um alle Bewegungen lebensecht ausführen zu können, müssen die beiden Tänzer perfekt aufeinander abgestimmt sein. Manchmal muss der erste Tänzer sogar auf die Schultern des zweiten springen.
Als der Löwentanz zu Ende ist, löst sich die Zuschauermenge rasch auf. In der Sonne ist es heute auch viel zu heiß. Daher tragen einige einen Sonnenschirm, besonders die Frauen und Kinder. In Deutschland wäre ich jetzt mit Papa und Mama ins Freibad gegangen. Aber hier habe ich etwasanderes im Sinn. »Schade, dass Sophie und Ping nicht mit dabei sein können«, seufze ich.
»Wer ist Ping? Dein neuer ›boy friend‹? Kenne ich ihn?« Onkel Peter schmunzelt. Als ob ich schon mal einen »boy friend« gehabt hätte!
»Ich habe keinen ›boy friend‹ und ich brauche auch keinen! Wenn, dann vielleicht später«, brumme ich. Ich kann es fast nicht glauben, dass auch Onkel Peter solche Witze lustig findet. Bei uns in der Klasse gibt es ein paar Mädchen, die ständig nur über Jungs reden und Liebesbriefe schreiben, aber ich bin doch nicht eine von denen!
»Ping ist nur ein guter Freund, der mit mir zusammen Taiji übt. Er ist das Enkelkind von Meister Zhao Tianlong.«
»Lernst du Taiji von Meister Zhao Tianlong?« Onkel Peter klingt ganz aufgeregt. »Er war Sieger der Nationalen Kampfkunstmeisterschaften. Einer der besten Taiji-Meister unserer Zeit!«, sagt er respektvoll. »Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Einfach so.« Ich zucke mit den Achseln. »Er ist Lao Yes Freund.«
»Du Glückspilz!« Onkel Peter schnalzt mit der Zunge.
«Wenn Sophie jetzt hier wäre, hätten wir bestimmt zusammen Taiji trainiert. Wir hätten Partnerkampf geübt, so wie du früher mit Papa. Warum bloß habe ich sie nicht früher angerufen? Ich bin selbst schuld, dass wir uns nicht treffen können.«
Onkel Peter versucht, mich zu trösten: »Meinst du wirklich, dass es deine Schuld ist? Vielleicht wäre sie sowieso mit ihren Eltern verreist und du hättest daran nichts ändern können.«
»Vielleicht.« Ich stimme widerwillig zu. »Aber Sophie hätte bestimmt lieber mit mir gespielt.«
»Du kannst Sophie doch eine E-Mail schreiben und ihr erzählen, was du hier alles machst«, schlägt Onkel Peter vor.
Ich verdrehe die Augen. »Onkel Peter! Das ist doch nicht das Gleiche!« Ich denke oft daran, Sophie zu schreiben. Morgen schreibe ich Sophie mal, denke ich immer. Aber dann ist ständig etwas anderes los und ich habe ihr wieder nicht geschrieben. Vielleicht geht es Sophie genauso.
Onkel Peter überlegt und klingt diesmal ganz ernst: »Stimmt. Manchmal wünsche ich mir auch, dass ihr immer noch in Peking wohnen würdet. Ich könnte dann wieder jeden Tag mit deinem Papa Kung-Fu und Löwentanz trainieren. Ich würde dann bestimmt auch wieder schlank werden.«
»Was? Ihr beide könnt den Löwentanz?« Ich bin wirklich überrascht. Papa hat mir das nie erzählt. Ich weiß nur, dass er mit Onkel Peter an der gleichen Uni in London studiert
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