Sommerflimmern (German Edition)
Ichverschmelze mit dem Bleistift, dessen weiche Spitze so leise über das Papier schabt, dass das Geräusch vom Wispern des Schilfs übertönt wird, mit dem der Wind spielt.
Nur einen Schritt entfernt entdecke ich ein Prachtexemplar von Farn. Seine Wedel sind zum Teil eingerollt. Ich versuche, ihn so detailliert wie möglich darzustellen, kein Härchen lasse ich aus. Dann geht die Fantasie mit mir durch. In die Mitte der Pflanze zeichne ich eine Knospe, die gerade aufbricht und eine zarte, exotische Blüte freigibt.
So vertieft bin ich in die Skizzen, dass ich gar nicht auf Josua achte. Irgendwann stelle ich überrascht fest, dass er nicht mehr da ist. Einfach verschwunden, wie weggezaubert. Wie ist das möglich? Ich hätte ihn doch hören müssen. Habe ich mir den Nacktschwimmer nur eingebildet? Eine Fata Morgana, ausgelöst durch die Hitze und die ungewohnte Anstrengung einer Bergtour? (Das wäre ein Fressen für Zoe, die immer den Kopf schüttelt über meine ausufernde Fantasie!)
Irritiert klemme ich meinen Block unter den Arm und setze den Weg fort, der am Seeufer entlangführt, sanft ansteigt, parallel zum Kahlschlag verläuft und immer steiler wird, bis er hinter einer Kuppe in die Forststraße mündet. In der Ferne entdecke ich eine urige Almhütte, die von zwei kleineren Nebengebäuden flankiertwird. Die Dächer sindmit Solarpaneelen bestückt, die in der Sonne aufleuchten. Und dann sehe ich ihn: Josua. Also doch keine Halluzination! Erleichtert atme ich auf. Er steht gebückt in der Wiese und fummelt mit einer Zange am Weidezaun herum. Eine Kuh beobachtet ihn dabei. Vermutlich hört er meine Schritte, denn er hebt den Kopf und schaut auf.
»Hallo«, grüße ich.
Ein feines Lächeln umspielt seine Lippen. Eine Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht. Sie glänzt feucht. Obwohl er inzwischen vollständig bekleidet ist (mit Jeans und einem Karohemd, über das Leo die Nase rümpfen würde), weiß ich nicht, wo ich hinsehen soll, und schäme mich rückwirkend.
»Hallo«, antwortet er nach einer gefühlten Ewigkeit. Jedenfalls hätte ich in der Zeit meine halbe Lebensgeschichte erzählen und einen Apfel essen können. Er mustert mich lange. Ich würde gern weitergehen, aber meine Knie tun so, als wüssten sie nicht mehr, ob sie sich nach innen oder nach außen knicken lassen.
»Ich bin Paula«, stammle ich, obwohl er nicht danach gefragt hat, nur um irgendetwas zu sagen und die Peinlichkeit des Starrens zu durchbrechen.
»Chris.«
»Sind das deine Kühe?«
Tolle Konversation! Wirklich, Paula, du übertriffst dich selbst.
»Von meiner Oma.«
»Aha. Und du passt auf, dass sie nicht ausbüxen?«
Er nickt. Dann kommt nichts mehr und ich zwinge mein rechtes Bein, endlich einen Schritt nach vorne zu machen.
Weitergehen, Paula.
»Mein Sommerjob. Melken, Käsen, Zäune flicken und so …«
Immerhin. Zwei Sätze. Wenn auch unvollendet. »Dann lebst du auf der Alm und bist Hirte?«
»Senner.«
Ich überlege, was ich noch fragen könnte. Schwimmst du immer nackt im See? Wohnt deine Freundin auch hier? Kannst du dir vorstellen, als fliegender Held in einem besseren (oder schlechteren) Comic zu landen? Ich presse meine Lippen zusammen.
»Und du?« Er zeigt auf meinen Block. »Künstlerin?«
Das K von Künstlerin kommt ganz hinten aus seiner Kehle, als wollte er sich über alle Künstler dieser Welt lustig machen. Oder liegt es nur am Dialekt? Jedenfalls klemme ich den Zeichenblock fester unter meinen Arm.
»Lass mal schauen!« Er sagt es fordernd.
SCHLUCK. Eine Hitzewelle flutet mein Gesicht und verwandelt es vermutlich in einLeuchtradieschen. »Tut mir leid, das ist viel zu dilettantisch, um es herzuzeigen«, nuschle ich. Nur schnell weiterreden. Ablenkungsmanöver. »Was macht ein Senner eigentlich so?«
»Die Milch verarbeiten. Zu Butter und Graukäs.«
»Graukäse?«
»Eine Tiroler Spezialität. Mit Zwiebelringen, Essig und Öl schmeckt er am besten. Wenn du mitkommst, darfst du kosten.«
Meine Ohrläppchen pulsieren. Jetzt fängt das Leuchtradieschen also auch noch zu blinken an. »Geht leider nicht. Ich bin schon spät dran.« Paula, du Mondkalb. Mir ist nicht zu helfen. Ich habe die einmalige Chance vertan, Josua näher kennenzulernen. »Wir haben für heute eine Feier geplant, ein paar Freunde und ich. Ist noch einiges zu tun. Aber vielleicht morgen?«, versuche ich zurückzurudern.
Er legt seine Stirn in Falten. Ist er enttäuscht, dass ich nicht alles stehen und liegen lasse, um seine
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