Sommergayflüster
wie an diesem ersten Urlaubstag hatte er Lars noch nie erlebt. Und auch sich selbst nicht.
In ihrem Stadtalltag waren sie wie gefangen. Es gab zu viele Ablenkungen, durch die man sich ausweichen und Problemen und Konfrontationen aus dem Weg gehen konnte. Hier konnte man das nicht mehr.
Stefan nahm die weiche Haut von Lars an seiner Schulter wahr und schloss die Augen. Er fühlte sich frei. Frei und ungezwungen. Stumm malte er sich den weiteren Verlauf des Urlaubs aus. Vielleicht würde er gar nicht so schlecht werden und war nicht so überstürzt ins Leben gerufen worden, wie zunächst angenommen. Er könnte sie auch näher zusammenbringen.
Vorsichtig nahm er die Hand von Lars, die auf seiner Brust ruhte, und hielt sie fest. Erneut schweiften seine Gedanken ab. Seine Mutter war nicht begeistert gewesen, dass er schwul war. Sie war es immer noch nicht. Dabei war es bereits zehn Jahre her, dass er ihr es erzählt hatte. Es passierte eines Morgens am Frühstückstisch, als er zu Hause zu Besuch gewesen war. Er hatte das zweite Semester seines Medizinstudiums in der Großstadt hinter sich gebracht und sich offen und sicher genug gefühlt, es endlich erzählen zu können. Doch der Rest des Wochenendes war damit im Eimer gewesen. Dabei hatte er gar nicht erwähnt, dass er Sex mit Fremden in der Sauna hatte oder gelegentlich auch in Darkrooms ging. Das musste seine Mutter auch nicht wissen. Schließlich gestand er das schon Freunden nicht gern. Er berichtete lediglich von einer Coming-out-Gruppe, zu der er montags immer ging, und bei der er ein paar richtig gute Freunde kennengelernt hatte. Sie waren anders als die, die er bisher hatte. Sie waren eigentümlicher, bunter und … eben anders. Er freute sich immer hinzugehen, denn er wusste, dass er dort nichts verheimlichen musste. Dort war er er selbst, vielleicht mehr als irgendwo sonst. Es schien erstaunlicherweise weniger um das Coming-out an sich zu gehen. Vielmehr war das Schöne, durch das schwule Café in den Gruppenraum zu schlendern, in dem alle in einer Runde saßen, um sich die Erlebnisse der Woche zu erzählen. Es wurde viel gelacht und durch den Kakao gezogen.
Stefan konnte sich bei dem Gedanken an die Gruppe ein wohliges Grinsen nicht verkneifen. Er hatte schon länger nicht mehr an sie gedacht. Was die wohl heute machten?
Als er mit dem Studium fertig gewesen war und die Stadt wechseln musste, hatten sich die Kontakte verloren.
Schade, überlegte er, denn immerhin waren sie es, die ihm Mut gemacht hatten, sich vor seiner Mutter zu outen, so schwer und unmöglich es anfangs auch gewesen war.
Was sie wohl zu Lars sagen würden?
Der Sex auf der Toilette wäre für die Runde die Neuigkeit schlechthin gewesen und hätte ihm viel Aufmerksamkeit gebracht. Bestimmt zöge dieser intime Ausflug eine Folge frivoler Scherze nach sich.
Damals hatte er keinen Partner gehabt. Er war zwar oft und viel mit den anderen weggegangen, aber zu einer Beziehung war es nie gekommen. Mit Frauen hatte er ebenfalls kein Problem gehabt. Julia, seine damalige Freundin, die er glaubte, noch haben zu müssen, als er in die Stadt kam, nahm sein Outing ohne Weiteres hin. Sie verstanden sich nach wie vor gut, und heute war sie seine beste Freundin und engste Vertraute. Nur einen Freund oder eine feste Beziehung zu finden, erschien ihm damals fast unmöglich.
Jetzt lag Lars neben ihm. Eine Tatsache, die ihn erstaunte und bei genauerer Betrachtung froh machte. Wie hatte er das nur geschafft?
Stefan fand keine Antwort. Es schien eine Art undefinierbare Bindung zu sein, die sie pflegten. Lars fand Dinge an ihm gut, die er vorher nicht wahrgenommen hatte. Lars konnte sehr anstrengend sein, doch letzten Endes wertete ihn die Beziehung auf. Alles kam ihm plötzlich leichter vor. Lars nahm die Dinge nicht so ernst, an denen er sich gelegentlich gerne festbiss.
Stefan öffnete wieder die Augen und blickte in den Himmel.
Danke Gott, dachte er.
Er war nicht sonderlich gläubig und längst aus der Kirche ausgetreten, doch ab und an musste er ihm danken. Ob es ihn nun gab oder nicht: „Einmal Katholik – immer Katholik“ hatte Madonna einmal in einem Interview gesagt und sollte damit recht behalten. Er bemerkte einen sanften Wind, der über sie hinwegzog – angenehm warm, trotz der fehlenden Sonne, die erneut hinter den Wolken verschwunden war.
Stefan realisierte die eigene gleichmäßige Atmung, die Ruhe, die seinen Körper erreicht hatte. Er ließ die Gedanken los und spürte wieder die
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