Sommerglück
fuhr.
Warum hatte man sie am Leben gelassen?
Ihr Gesicht war zerschrammt und vom Sturz geschwollen, und sie konnte nicht aufhören, mit der Zunge über die abgebrochenen Vorderzähne zu fahren. Sie war jedes Mal aufs Neue den Tränen nahe, wenn sie an ihre Zähne dachte, aber ihr Mund war mit Isolierband zugeklebt, und wenn sie weinte, musste sie würgen, deshalb drängte sie die Tränen zurück. Sie wusste, dass sie von Glück sagen konnte, überhaupt noch am Leben zu sein.
Sie betete den ganzen Abend. In der undurchdringlichen Dunkelheit hatte sie das Gefühl, ihre Mutter sei bei ihr in dem Van, der sie überfahren hatte, und breite ihre Arme, ihre Engelsflügel aus, um sie zu wärmen. Wenn ihre Mutter nicht wäre, dann wäre sie längst tot, das stand für sie fest. Ihre Mutter hinderte die Mörder daran, auch sie umzubringen.
Ihre Mutter war ihre Rettung, was in Eliza einen überwältigenden Lebenswillen hervorrief. Erst im Angesicht des Grauens war ihr klar geworden, dass sie
alles
tun würde, um zu überleben und dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.
Der Gedanke an Selbstmord erschien ihr mit einem Mal schrecklich, selbstsüchtig und leichtfertig – ihrem Naturell völlig fremd. Sie wollte leben und betete zu Gott, dass sie es schaffen würde.
Dan Connolly kannte Leid, Kummer und Grauen aus eigener Erfahrung. Seine Eltern waren herzensgute, liebevolle Menschen gewesen und beide zu jung gestorben. Nach Charlies Tod hatte er sich wie ein Schatten seiner selbst gefühlt, eine verlorene Seele. Seither war er an seiner Sorge um Eliza schier verzweifelt. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt empfand: als sei er wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen worden. So würde man sich beim Angriff eines Hais fühlen, im Zeitlupentempo.
Eliza, seine kleine Eliza. Sie war ein Teil von ihm und er ein Teil von ihr. Er hatte sie nach der Geburt in den Armen gehalten – zuerst Charlie, dann er. Seit er zum ersten Mal ihr Gesicht betrachtet und in ihre Augen geblickt hatte, war in Dan eine Liebe entbrannt, die niemals verging, die ein Leben lang währte, auf die er niemals verzichtet hätte, ungeachtet der Verantwortung und Intensität.
Im Haus herrschte ein reges Kommen und Gehen: Detective Rivera und Detective Keller, Kollegen aus ihrer eigenen Einsatztruppe, von der Spurensicherung, Joe Holmes. Im Laufe der Nacht trafen immer wieder neue Informationsbruchstücke ein: Das Isolierband war in größerer Menge an die Instandhaltungsabteilung der Shoreline Bank verkauft worden.
Es hatten sich keine unidentifizierbaren Fingerabdrücke an der Türklinke des Hauses oder dem Geländer der Veranda befunden, aber Joe schien zu dem Schluss gelangt zu sein, dass die Kratzer am Fliegengitter vor Elizas Fenster keineswegs von Zweigen stammten, sondern von einem Messer, mit dem man den Rahmen aufzubrechen versucht hatte. Der Baum war seiner Meinung nach als Kletterhilfe benutzt worden, um auf das Dach zu gelangen, und die Polizei durchforstete die Umgebung nach weiteren Spuren, die der Täter möglicherweise hinterlassen hatte.
Bay harrte an Dans Seite aus.
»Du willst sicher nach Hause«, sagte er mit Blick auf seine Uhr, die zeigte, dass es bereits kurz vor Mitternacht war.
»Ich gehe nicht weg.«
Ihre Blicke trafen sich. Er sah die gleiche Fürsorge und Zuneigung, die sie früher für ihn empfunden hatte, doch nun von Schmerz überschattet war. Sie legte die Arme um ihn, und er vergrub den Kopf an ihrer Schulter, klammerte sich an sie, wie ein Ertrinkender.
»Sie ist stark, Dan. Denk daran, was sie schon alles durchgestanden hat. Und wie sehr du sie liebst – das weiß sie.«
»Glaubst du?«
»Ich weiß es. Du bist für sie der wichtigste Mensch auf der Welt.«
»Das war früher ihre Mutter.« Und dann sprach er davon, dass er wieder daran dachte, dass sie mit angesehen hatte, wie ihre Mutter von einem Van überfahren worden war. Diese Vorstellung ließ ihn zusammenfahren. Sein kleines Mädchen hatte schon einmal ein lebensbedrohliches Trauma davongetragen – wie konnte er also hoffen, dass sie so etwas ein zweites Mal überstand?
Bay antwortete nicht, aber sie hielt ihn in den Armen, strich ihm sanft über den Hinterkopf.
»Sie liebte Charlie abgöttisch. Ihre Mutter war immer für sie da. Gott, ich denke oft, das hier wäre nicht passiert, wenn ich mich in den letzten Jahren mehr zusammengerissen hätte. Charlie war so beständig … kam nie vom Kurs ab, machte nie etwas
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