Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
schaute dabei immer noch so schockiert drein wie in dem Moment, als ich ihr von Sonjas widerrufener Reiseerlaubnis erzählt hatte, aber Mama lächelte.
    »Es ist alles in Ordnung, Falki, wirklich«, sagte sie, wobei sie einen merkwürdigen Seitenblick auf Karen warf. Erstmals in meinem Leben hatte ich das Gefühl, ihr nicht glauben zu können.
    »Wirklich?«, fragte ich skeptisch.
    Beide nickten.
    »Wirklich«, bestätigte Papa. »Mach dir keine Sorgen.«
    Die Art, wie er gleichzeitig, vermutlich sogar unbewusst, nach der ziellos neben dem Körper herumflatternden Hand meiner Mutter griff, strafte ihn Lügen. Es war keineswegs alles in Ordnung. Irgendwas ging zu Hause vor sich, und die beiden hatten Pläne, von denen ich nichts wissen sollte. Aber die einzige Idee, die mir in dieser Hinsicht kam, war so abwegig, dass ich sie gleich wieder verwarf. Wir konnten doch nicht flüchten, während Sonja in der DDR blieb. Und: Warum auch?
    »Geht an den Strand«, sagte Papa und schob sich die dunkelbraune Sonnenbrille ins Gesicht. »Es ist so ein schöner Tag. Wir werden uns ein bisschen die Gegend anschauen.«
     
    Am Abend, nach einem traumhaften Tag und einem reichhaltigen Abendessen, bei dem würzige Grillwürste im Vordergrund standen, die Manfred ausgegeben hatte (»Wir sollten sowieso nicht so viel essen!«), holten die vier mich wieder ab. Wir gingen aber nicht gleich zur Disco, sondern zu den Karussells. Karen spendierte mir Zuckerwatte, die nicht nur nach karamellisiertem Zucker, sondern auch ganz leicht nach Nüssen und etwas Chemischem roch, aber prima schmeckte. Tobiredete währenddessen mit dem faltigen, etwa sechzigjährigen Ungarn im zugehörigen Bretterverschlag, von wo aus er das Fahrgeld kassierte. Ich schnupperte nach dem Aroma von sehr altem, müdem und ziemlich rostigem Eisen, dem Geruch der knarzenden Lederbänder, mit denen sich jene anzuschnallen hatten, die im quietschenden, wackligen Kettenkarussell fuhren, nach Karens Apfelshampoo und dem sehr männlichen, unfassbar intensiven Rasierwasser, das Hans aufgelegt hatte, obwohl keine Spuren von Bartwuchs zu sehen waren.
    »Sie gehören uns«, verkündete Tobi, als er das Gespräch mit dem Kassierer beendet hatte. »Freie Fahrt für alle, so lange wir wollen.«
    Die anderen lachten fröhlich, aber ich fragte nur: »
Was?
«
    »Ganze zehn Mark, ich habe die Karussells gekauft.«
    Ich stutzte und verspürte Befremdung. Das war sicherlich nett gemeint, eine freundliche Geste, oder einfach nur die Art von Spaß, die man sich erlauben konnte, wenn alles so günstig war, dass Geld keine Rolle spielte, aber es kränkte mich dennoch. Um uns herum standen Dutzende Menschen, die meisten aus meinem Land, betrachteten die kläglichen Metallungetüme vor uns, aber die Augen der kleinen Kinder leuchteten, während sich ihre Eltern Blicke zuwarfen, in denen deutlich »Können wir uns das leisten?« geschrieben stand. Der Wechselkurs von Mark in Forint war so miserabel, dass der Tagessatz kaum ausreichte, um Essen und Zeltplatz zu bezahlen, vom Zweitaktergemisch für die Autos ganz zu schweigen, und hier kam ein
cooler
Westdeutscher einfach daher, legte mal eben einen Schein auf den Tisch und kaufte mal eben den gesamten Laden auf. Ich verspürte Scham und einen Anflug von Traurigkeit, außerdem kündigten sich Tränen an. Ich war versucht, Karens Hand loszulassen – sie bekam nichts von dem mit, was in mir vorging – und zu meinen Eltern zurückzulaufen.
    Aber Tobi sprang auf das Metallgitter, das das Flugzeugkarussell umgab, hob die Arme und brüllte: »Heute ist hier alles kostenlos, Leute! Steigt ein und fahrt so lange, wie ihr wollt. Die Karussells sind ab sofort gratis!«
    Mit diesen Worten bestieg er eine blassblaue Kabine, die letztlich nur ein abgerundeter Kasten aus Gestänge und Pappmaché war und der ein Flügel fehlte, kreischte laut und wirbelte mit der rechten Hand über dem Kopf herum. »Los, steigt alle ein!«, schrie er.
    Die Leute um uns herum sahen sich verunsichert an, aber dann liefen die ersten Kinder los und sprangen in die Flugzeugimitate. »Das gilt für beide Karussells!«, brüllte Tobi mit hochrotem Gesicht, das breit über beide Wangen grinste.
     
    Die folgenden neun Tage vergingen wie in Trance. Ich verbrachte meine Zeit fast ausschließlich mit Karen, Tobi, Hans und Sabine. Wir badeten, ruderten, spielten, redeten, ritten sogar auf halbtoten Gäulen, die für dreißig Forint dreißig Minuten lang eine viereckige Grasnarbe umtrotteten.

Weitere Kostenlose Bücher