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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Wir tranken
Traubisoda
, aßen Pörkölt, wie hier das Gulasch genannt wurde, obwohl ich bis dato geglaubt hatte, dass es sich um eine ungarische Bezeichnung handelte, und scheußliche, mit dicken Fasern durchsetzte Salami, die nach ranzigem Salz und einer Feuchtigkeit roch, die mich an Nacktschnecken denken ließ, fuhren auf klapprigen Leihrädern kilometerweit die Landstraße entlang. Und nicht nur, wenn ich mit Karen alleine war, tanzten wir miteinander, küssten und streichelten uns, und ab dem sechsten Tag hatten wir auch Sex. Es geschah einfach so, plötzlich waren wir nackt, und dann war ich in ihr, und es geschah so überraschend, dass ich nicht dazu kam, alle Bedenken, die ich in dieser Hinsicht während der beiden Jahre, nachdem erstmals ein Mitschüler davon gesprochen hatte, angesammelt hatte, in den Vordergrund treten zu lassen: Werde ich das können?Was tut man eigentlich, wenn man eingedrungen ist? Geschieht es von selbst? Werde ich jetzt Vater? Bin ich dafür nicht noch viel zu jung?
    Für Karen war es nicht das erste Mal; vorsichtig leitete sie mich an. Sie sorgte auch dafür, dass nichts passieren konnte, denn sie beobachtete mich aufmerksam mit ihren riesigen dunklen Augen, während wir es taten, und drängte mich, beide Hände auf meinen Schultern, sanft aus sich heraus, sobald sich mein Höhepunkt ankündigte.
    Meine Gefühle waren rätselhaft. Ich fand es aufregend und gleichzeitig in gewisser Weise selbstverständlich. Es war einfach irgendwie richtig, das zu tun. Es war kein Wunder, keine Gnade, kein weltbewegendes Ereignis, sondern schlicht und einfach schön. Mit der Sexualaufklärung in der Schule hatte es allerdings weniger als nichts zu tun. Und das galt auch für alles, was mir in den vergangenen Tagen widerfahren war: Es entlarvte das Meiste von dem, was man mir in all den Jahren erzählt hatte, als Vereinfachung, als schematische Darstellung, zielgerichtet, eingefärbt, täuschend.
     
    Am Abend des sechzehnten Juli flüchteten wir über die ungarisch-österreichische Grenze. Es passierte so Hals über Kopf, so unvorbereitet und unangekündigt, dass ich erst verstand, was geschah, als Mama und ich in einem Wohnmobil saßen, das einem jungen, sehr ernsthaften und schweigsamen westdeutschen Ehepaar gehörte, und vom Zeltplatz, wo wir das riesige Fahrzeug bestiegen hatten, auf der Landstraße entlang in Richtung Westen fuhr. Weiter hinter uns, aber außer Sichtweite, folgte das zweite Wohnmobil, in dem Papa saß, wie ich zu diesem Zeitpunkt noch glaubte. Ich zitterte und musste fortwährend nach Luft schnappen, hatte keinen Blick für das erstaunliche Inventar des Fahrzeugs, keine Fragen an meine Mutter, die mit einem gleichsam toten Gesichtsausdruckneben mir hockte, und dachte fieberhaft darüber nach, ob das wirklich real war, was wir hier gerade zu tun im Begriff waren. Mamas Hände flatterten, obwohl sie auf die Sitzbank gedrückt waren, und sie wich meinem Blick aus, schluchzte ab und zu, schloss für Minuten die Augen und riss sie wieder auf, als sei ihr etwas in den Sinn gekommen, das noch viel schrecklicher war als das hier. Ich weinte und weinte dann wieder nicht, bemühte mich, Regelmäßigkeit in meinen Atem zu bekommen, hatte maßlose Angst und verstand nichts. Warum taten wir das?
    Der Wagen hielt irgendwann, aber draußen war nur Landschaft, und dann kam der junge Mann und klappte die Sitzbänke hoch, auf denen wir hockten. Er drehte Schrauben heraus und zog an Pressspanplatten, danach wies er stumm auf die beiden Hohlräume in den Sitzbänken. Mama warf mir einen Blick zu, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde, dann stieg sie in das Loch und kauerte sich zusammen, wie ein Embryo auf den Zeichnungen im Biologiebuch, und weil ich keine Ahnung hatte, was es für Alternativen gab, kletterte ich in die andere Kuhle und tat es ihr nach, obwohl ich viel lieber laut geschrien hätte: nach Sonja, nach Karen und nach Erklärungen für all das hier. Das Brett drückte in meine Seite, ich lauschte dem leisen Quietschgeräusch, das der Mann beim Verschrauben der Abdeckung verursachte, roch in die Dunkelheit, war aber nicht dazu in der Lage, etwas herauszufiltern.
    »Keinen Mucks«, hörte ich durch die Platte, aber ich konnte nicht einmal nicken.

Stop Motion (1983)
     
    »Bist du aufgeregt wegen morgen?«, fragte Arndt und sah von seinem Plaste-, nein,
Plastik
-Schneidetisch auf, einem seltsamen Gestell, das von einer durchscheinenden, von hinten beleuchteten Platte

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