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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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beherrscht wurde, auf die er die schmalen, dunklen Zelluloidstreifen geklemmt hatte. Noch während er auf meine Antwort wartete, beugte er sich wieder vor, um den Inhalt einer Szene zu prüfen, die sich auf einem der zwei Dutzend Super-8-Filmschnipsel befand. Dann nahm er das Stück Film und fädelte es sorgfältig in eine kleine Schneidemaschine ein, schnitt es mit einer Klappklinge diagonal an und befestigte dann einen hauchdünnen Klebestreifen darauf.
    Bin ich aufgeregt?, fragte ich mich selbst und betrachtete dabei meinen einzigen Freund, der eigentlich kein Freund war, sondern nur ein seltsamer Junge aus meiner Klasse, mit dem ich einen Teil meiner Freizeit verbrachte. Genau genommen wusste Arndt fast nichts über mich, nur, dass ich aus dem Osten kam und mit meiner Mutter zusammenwohnte. Meistens half ich ihm dabei, seinem Hobby nachzugehen, der Produktion von drei Minuten langen Trickfilmen, die entweder aus kafkaesken Zeichnungen bestanden oder Stop-Motion-Sequenzen, für die wir Figuren aller Art arrangierten (Zinnsoldaten, kleine Puppen, Playmobil-Figuren, aus Lego zusammengesetzte, roboterartige Wesen, Plastik-Minimenschen, die zu seiner Märklin-Eisenbahn gehörten, und vieles mehr) und stundenlang um wenige Millimeter bewegten, damit Arndt wieder die grelle, stinkende Filmlampe einschalten und ein Einzelbild schießen konnte. Achtzehn Bilder waren für eine Filmsekunde nötig, über tausend für eine Minute, weshalb wir nicht seltenmehrere Wochen für einen Film benötigten, und mir war bewusst, dass ich Arndts Gegenwart nur ertrug, weil die stoische, meistens schweigend verbrachte Langsamkeit, die diese Tätigkeit mit sich brachte, ein willkommenes Gegengewicht zur Hektik darstellte, die mich seit drei Jahren gefangen hielt. Eigentlich war Arndt kein besonders angenehmer Geselle. Er roch nach Kohl, süßlicher Zahnpasta (seltsam: Erdbeeraroma) und furchtbaren Schweißfüßen, selbst wenn er sich kurz zuvor gewaschen und frisch eingekleidet hatte. Er hatte ein schwammiges Gesicht, strohige Haare, die an Holzwolle erinnerten, und sehr fleischige, unsymmetrische Lippen, die ihm eine infantile und zugleich merkwürdig abgebrühte Note verliehen. Die anderen in der Klasse nannten ihn »Riesenbaby«, wenn sie sich überhaupt mit ihm abgaben, aber meist nahmen sie einfach keine Notiz von ihm, höchstens, weil er wieder mal als Letzter übriggeblieben war, wenn Mannschaften im Sportunterricht ausgewählt wurden, und man ihn wohl oder übel in die eigene mit aufzunehmen hatte. Dieses Schicksal ereilte mich ebenfalls recht oft, aber ich nahm es deutlich gelassener hin. Arndt hingegen trieb es regelmäßig die Tränen in die Augen. Während der vergangenen drei Jahre war ich zwar um zweiundzwanzig Zentimeter gewachsen, aber mein Gewicht war überproportional angestiegen – ich wog einundneunzig Kilo bei eins siebenundsiebzig Körpergröße, Tendenz weiter steigend. Ich war viel zu dick, aber das war mir egal. Nein, war es nicht, aber ich beruhigte mich damit, dass es einen fortwährenden Protest gegen die Situation darstellte. Einen Protest ohne Adressaten.
     
    »Nein, ich glaube nicht«, antwortete ich. Morgen Vormittag würde ich in Tegel ein Flugzeug nehmen, zum zweiten Mal in meinem Leben, und dieses Mal, um nach Frankfurt zu fliegen, Frankfurt am Main und nicht Frankfurt an der Oder. Dortwürde ich in den Bus steigen, in dem sich der Rest meiner Klasse befände, die bald nicht mehr existieren würde, weil wir von der sogenannten E-Phase in die Oberstufe wechselten, schon im kommenden Frühjahr. Dort würden sich die Klassenverbände endlich auflösen, obwohl ich nicht ernsthaft daran glaubte, dass sich dadurch etwas verbessern würde.
    Arndt sah auf, zwinkerte und rieb sich mit dem Zeigefinger das rechte Augenlid. Es war anstrengend, diese fitzelkleinen Bilder zu betrachten, und ich vermutete schon länger, dass er eigentlich eine Brille brauchte, aber wahrscheinlich wäre das genau das Zeichen körperlicher Unzulänglichkeit gewesen, das das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. Arndt, ein hagerer Typ namens Harald, einer von den drei Martins in unserer Klasse und ich gehörten zu jenen, die am Rand der Wahrnehmung existierten, weil wir noch nicht interessant genug für fortwährende Hänselei und üble Streiche waren, während es einem tumben Koloss namens Heiko, der seine Versetzungen auf rätselhafte Weise immer wieder schaffte, und der zwergenwüchsigen Tine da ganz anders erging. Wenn sich jemand

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