Sommerhit: Roman (German Edition)
in den Spreewald und dann in Richtung Ostsee zu fahren, weil sie Jürgen und, natürlich, Sonja suchen wollten. Ich hielt das für eine weniger gute Idee – die Situation war unübersichtlich, viele rechneten damit, dass es ein Aufbäumen des maroden DDR-Staatsapparates geben könnte, und Luise war immer noch eine Republikflüchtige, ein Staatsfeind, eineStraftäterin. Aber sie ließen es sich nicht ausreden. Ich diktierte die Namen und Telefonnummern der Hotels, in denen ich während der folgenden Tage wohnen würde. Am liebsten hätte ich die Tour abgesagt, um meine Eltern zu begleiten, überhaupt meinen Vater zu
sehen
, aber im Gegensatz zum Schlagzeuger war ich jemand, den man nicht so einfach ersetzen konnte.
In Marburg lieferten wir einen ordentlichen Gig ab, dieses Mal auch ohne Nationalhymne, aber vor der Schlusszugabe – »Lügen sind nie für immer« – erzählte Minka nicht, wie sonst immer, eine völlig fiktive, aber sehr ergreifende Geschichte dieses Liedes, sondern widmete es »unseren Landsleuten im Osten«, von denen sie bisher keinen getroffen hatte, von mir abgesehen – und hier auch nur unbewusst. Natürlich hatte sie Fans in der DDR, die über wechselnde Deckadressen Autogramme erbaten oder in langen Briefen davon erzählten, wie viel ihnen Minkas Musik bedeutete, aber all das erledigten die Plattenfirma und Minkas Management – sie selbst hatte noch nie auch nur eine einzige Zeile davon gelesen. Es gab, bevor wir den Song anstimmten, einen lauten Seufzer von Marko, dem ich mit einem leichten Nicken zustimmte, und das Publikum applaudierte der nichtssagenden Geste höflich.
Irgendwo da unten saß Karen. Es war aufregend zu wissen, dass jemand im Publikum zuhörte und zusah, den man kannte oder mit dem man befreundet war, hauptsächlich
vor
dem Auftritt – es steigerte die Stage Panic noch ein wenig, völlig unabhängig davon, ob sich tausend oder nur zwanzig Menschen im Auditorium befanden oder wie oft man schon
Mucke
gemacht hatte. Bei Karen war es umso aufregender, denn ich sah sie viel zu selten – ein halbes Dutzend Mal nach meinem Überfall, aber wir telefonierten regelmäßig und schrieben uns nach wie vor lange Briefe. Ich tat das meistensim Bus, wenn wir Autobahnen und Landstraßen entlangfuhren; es war Karen zu verdanken, dass ich mir eine sehr exakte Handschrift und die Fähigkeit angewöhnt hatte, Bewegungen des Fahrzeugs zu antizipieren – und trotz aller Schaukelei sauber zu schreiben.
Ich hatte dafür gesorgt, dass man sie nach dem Auftritt hinter die Bühne lassen würde. Minka zog sich um, stand in Unterwäsche und Strümpfen neben mir, sich mit einer Hand an der Ledercouch festhaltend, um aus dem schwarzen Rock zu steigen, auf den schon der Roadie wartete, der sich um die Reinigung zu kümmern hatte. Es klopfte zaghaft, ich rief lauter als nötig »Herein!«, weil ich wusste, wer das war. Als Karen eintrat und sich scheu umsah, um bei meinem Anblick – der Raum war wie immer kurz nach den Auftritten proppenvoll – erfreut zu lächeln, beobachtete ich im Augenwinkel Minka, die ihre dunklen Augen von mir zu Karen und wieder zurück flattern ließ. Es war sehr selten, dass ich privaten Besuch bekam – ich hatte nur wenige Freunde und war nicht auf der Suche nach neuen, aber die Sängerin hatte mich, von ein paar lahmen Begegnungen mit Groupies abgesehen, noch nie mit einer anderen Frau beobachtet. Karen kam zu mir, ich sprang auf, umarmte sie herzlich, und dann küsste sie mich sanft, aber wohl überwiegend freundschaftlich auf den Mund.
»Das ist meine gute Freundin Karen. Karen, das ist die berühmte Minka.«
Minka lächelte auf diese ironisch-distanzierte Art, aber da war noch etwas anderes in ihrer Mimik, etwas Überraschtes, vielleicht sogar Eifersüchtiges, Karen strahlte und schüttelte die angebotene Hand beidhändig.
»Sie sind eine großartige Künstlerin«, erklärte sie brav. Ich wusste, dass sie die Musik nicht mochte. Karen hörte inzwischen nur noch Klassik und sonst nichts. Wenn ich sie gar aufBilly Joel oder gar Ottawan ansprach, tat sie das ab. »Popmusik«, sie sprach das Wort aus, als wäre es der Name eines üblen Tyrannen, »ist etwas für Leute ohne eigenen Geschmack.«
Minka nickte, murmelte »Danke«, wandte sich ab und nahm Jeans und T-Shirt aus ihrer Tasche.
Karen zog mich an sich. »Ist es okay, wenn ich hier bin?«, fragte sie leise – und leicht irritiert. Minka war nicht die einzige Person im Raum, die sich in Unterwäsche
Weitere Kostenlose Bücher