Sommerkind
Aber jeder, der dich als Kind kannte, weiß, dass du schon immer eine Schwäche für Menschen in Not hattest.”
Er musste plötzlich an Grace denken. Er war von ihrer Hilflosigkeit angezogen worden, okay. Aber war das wirklich alles?
Mit Glorianne war es dasselbe gewesen. Er erinnerte sich daran, wie seine Exfrau war, als er sie kennengelernt hatte – wie unsicher, wie verzweifelt auf der Suche nach einer starken Schulter, an die sie sich anlehnen konnte.
Und dann gab es Daria, die niemanden zu brauchen schien. Er war von Graces Schönheit so hingerissen, von ihrer Bedürftigkeit so umnebelt gewesen, dass er nicht die liebevolle Frau bemerkt hatte, die direkt vor ihm stand.
“Cindy”, sagte er und stand unvermittelt auf. Jetzt konnte er gar nicht schnell genug nach Kill Devil Hills zurückkommen. “Ich glaube, du hast mir sehr geholfen.”
45. KAPITEL
A ls Daria an diesem Abend von ihrer Unterrichtsstunde auf der Feuerwache zurückkam, fand sie Rory auf den Stufen zum Sea Shanty sitzend vor.
“Ist das nicht ein wunderschöner Abend?”, fragte er beim Aufstehen.
Sie hatte noch keine Notiz davon genommen. Wie in Trance hatte sie ihre Klasse unterrichtet. Jeder wollte über den Hurrikan und das Drama sprechen, das sich draußen an Andys Steg ereignet hatte, bei Weitem die spektakulärste Rettungsaktion der Nacht. Sie versuchte, die Diskussion auf den Bedarf an Notfallbereitschaft während eines Sturms zu lenken, doch niemand zeigte Interesse. Stattdessen wollten ihre Schüler wissen, wie sie es geschafft hatte, zwei Menschen aus einem umgekippten Boot zu retten, während das Wasser gestiegen und ihr um die Beine geschwappt war. Sie dachten, “Supergirl” sei zurück.
Jetzt sah sie zum Himmel und bemerkte, dass er mit Sternen übersät war.
“Komm mit mir zum Strand”, bat Rory sie. Er hatte eine Decke dabei. “Es soll heute Abend einen Meteoritenschauer geben. Wir könnten ihn uns ansehen.”
Ihr Herz sagte Ja, ihr Verstand Nein. “Besser nicht, Rory.”
“Ach komm”, bettelte er. “Nur kurz.”
Wider besseres Wissen ging sie mit ihm an den dunklen Strand, wo sie ihm half, die Decke auszubreiten. Sie legte sich neben ihn, und kaum dass ihr Kopf die Decke berührte, segelten drei Sternschnuppen quer über den Himmel.
“Ich habe doch gesagt, es würde sich lohnen”, triumphierte er.
Wie konnte er bloß glauben, sie könnte einfach so mit ihm da liegen? Nach allem, was in der vergangenen Nacht passiert war?
“Wie war es bei Cindy?”, fragte sie.
“Interessant. Sie sieht noch genauso aus wie früher. Sie trug sogar einen Bikini.”
“Hat sie Licht ins Dunkel deiner Geschichte bringen können?”
“Na ja, sie hat ihre Theorie, so wie jeder andere auch.”
“Und welche ist das?”
“Sie ist ziemlich verrückt, also lach nicht. Ihre Hauptverdächtige ist deine Cousine Ellen.”
Noch ein weißer Diamant, diesmal mit einem Schweif, schoss durch die Nacht. Doch Daria nahm ihn kaum wahr. Rorys Äußerung hatte sie zu sehr verblüfft. “Wie kommt sie denn darauf?”
“Na ja, ich hatte das Gefühl, dass Cindy Ellen nie besonders gut leiden konnte. Also darf man ihren Verdacht wohl nicht allzu ernst nehmen. Sie hat gesagt, Ellen hätte einmal auf ihre Cousinen aufgepasst und eines der Mädchen geschlagen. Deshalb traut sie Ellen zu, ein Baby am Strand zu 'entsorgen'. Kam mir ziemlich komisch vor.”
Daria schloss die Augen.
Das war's. Der Augenblick der Wahrheit.
“Cindy ist sehr scharfsinnig”, stellte sie fest.
“Was meinst du damit?”
“Ich meine, dass sie recht hat. Ellen ist Shellys Mutter.”
Abrupt setzte Rory sich auf und sah sie an. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nur vage erkennen. “Bist du dir sicher? Wusstest du das schon die ganze Zeit?”
“Shelly war nicht das Einzige, was ich an jenem Morgen am Strand gefunden habe”, gestand sie. “Da war noch eine Muschelkette, von der ich wusste, dass sie Ellen gehört. Sie lag direkt neben dem Baby im Sand.”
“Mein Gott, Daria. Hast du das jemals jemandem erzählt?”
“Nein, nie. Ich war völlig verstört, als mir klar wurde, was Ellen getan hatte. Aber sie gehörte zur Familie, und sie war älter als ich. Nie im Leben hätte ich gewagt, irgendwem irgendwas über sie zu erzählen.”
“Hast du denn mit ihr mal darüber gesprochen? Weiß sie, dass du es weißt?”
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. “Ich habe noch nie ein Wort vor irgendjemandem darüber verloren – bis jetzt. Ellen hat nicht die
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