Sommerliches Schloßgewitter
Galahad.
Sue sah einen großen, hageren Mann von mildem, wohlwollendem Aussehen auf sie zuschlendern. Sie verspürte so etwas wie einen Schock. In Ronnies Erzählungen war der Earl von Emsworth immer als ein Menschenfresser vorgekommen, der auch den beherztesten Neffen das Fürchten lehrte. An diesem Ankömmling konnte sie aber nichts Furchteinflößendes finden.
»Ist das Lord Emsworth?« fragte sie überrascht.
»Ja. Clarence, das ist Miss Schoonmaker.«
Seine Lordschaft war herangeschlendert und strahlte liebenswürdig.
»So so? Aha. Oh ja, gewiß. Freut mich. Wie geht es Ihnen? Wie geht es Ihnen? Wie war der Name?«
»Schoonmaker. Tochter meines alten Freundes Johnny Schoonmaker. Du weißt doch, daß sie kommen wollte. Schließlich warst du dabei, als Constance losfuhr, sie abzuholen …«
»Ach, ja.« Die Nebel hoben sich von dem, was man wohl in Ermangelung eines passenderen Wortes als Lord Emsworths Verstand bezeichnen muß. »Ja, ja, ja. Ja, natürlich.«
»Ich möchte dich bitten, ihr ein paar Minuten Gesellschaft zu leisten, Clarence.«
»Aber gerne. Gerne.«
»Führe sie ein bißchen herum. Aber entfernt euch nicht zu weit vom Haus. Da zieht ein Gewitter herauf.«
»Richtig. Ganz recht. Ja, ich werde sie ein bißchen herumführen. Mögen Sie Schweine?«
Darüber hatte Sue noch nicht nachgedacht. Sie war das Stadtleben gewöhnt und hatte mit Schweinen noch keinen, wie man sagen könnte, gesellschaftlichen Umgang gehabt. Aber da ihr einfiel, daß Ronnie ihr gesagt hatte, für diesen Mann sei so ein Tier sein ein und alles, lächelte sie ihr strahlendes Lächeln.
»Oh ja, sehr.«
»Meins ist entführt worden.«
»Das tut mir aber leid.«
Lord Emsworth war sichtlich erfreut über soviel weibliches Mitgefühl.
»Aber ich hoffe sehr, daß man es jetzt wiederfindet. Es geht nichts über einen geschulten Verstand. Ich sage immer …«
Was es war, das Lord Emsworth immer sagte, blieb leider ein Geheimnis. Sicher wäre es etwas Schönes gewesen, aber die Welt sollte es nie erfahren, denn in diesem Augenblick wurde er in seinem Gedankengang von einem seltsam scharrenden Geräusch unterbrochen, das von oben kam, aus der Richtung des Fensters zur Kleinen Bibliothek. Irgendetwas flog durch die Luft. Und im nächsten Moment erschien inmitten eines Gladiolen-Beetes etwas so eindeutig Ungladiolisches, daß er es sprachlos, als hätte man ihm die Worte mit einem Schwamm vom Mund gewischt, und zutiefst befremdet anstarrte.
Es war Baxter der Tüchtige. Er kroch auf allen Vieren und tastete nach seiner Brille, die ihm heruntergefallen war und irgendwo im Unterholz lag.
2
Genau genommen gibt es keine unlösbaren Rätsel. Es ist zwar auf den ersten Blick verwirrend, wenn Ex-Sekretäre wie ein linder Regen vom Himmel auf Gladiolenbeete fallen, aber es gibt dafür immer eine Erklärung. Daß Baxter diese Erklärung nicht sogleich gab, hatte persönliche Gründe.
Wir haben Rupert Baxter als tüchtig bezeichnet, und das war er auch. So, wie wir das Wort verstehen, impliziert es nicht nur eine Fähigkeit, die Aufgaben des Alltags mit festem Griff elegant zu bewältigen, sondern darüber hinaus eine gewisse Beweglichkeit des Geistes, ein Gespür fürs Opportune, einen Blick fürs Wesentliche, schnelle Reaktion und Entscheidungsfreudigkeit. Mit diesen Gaben war Rupert Baxter aufs Reichlichste ausgestattet. Und so hatte er blitzschnell erkannt, kaum daß der Ehrenwerte Galahad mit Sue das Haus verlassen hatte, daß nun seine Gelegenheit gekommen war, nach oben in die Kleine Bibliothek zu flitzen und das Memoirenmanuskript an sich zu nehmen. Nachdem er, wie geplant, geflitzt war und sich gerade beim Durchsuchen des Schreibtisches befand, ließ ihn das Geräusch von Schritten vor der Tür von der Brille bis zu den Fußsohlen erstarren. Schon im nächsten Augenblick wurde der Türknauf von unsichtbarer Hand bewegt.
Man kann einen Baxter erstarren lassen, aber sein stets waches Gehirn kann man nicht betäuben. Blitzartig erfaßte dieser brillante Kopf die Lage und fand sogleich den einzig möglichen Ausweg. Um die Tür zur Großen Bibliothek zu erreichen, mußte er den Schreibtisch umrunden. Das Fenster dagegen war dicht bei der Hand. Also sprang er dort hinaus.
All das hätte Baxter in wenigen Worten erklären können. Er tat es nicht. Statt dessen erhob er sich und klopfte sich die Schollen von den Knien.
»Baxter! Was hat das zu bedeuten?«
Der Ex-Sekretär empfand den starren Blick seines gewesenen Arbeitgebers
Weitere Kostenlose Bücher