Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Handfläche an Ashlyns Wange und die Fingerspitzen an ihrem Ohr. »Ich komme schon klar. Und Leslie auch. Geh einfach.«
Als Seth einen Schritt zurücktrat, nickte Keenan ihm zu und nahm Ashlyns Hand. Was auch immer das war, was zwischen diesen dreien lief, es war noch weitaus abgefahrener, als Leslie wissen wollte. Und dass Niall die ganze Zeit nur eifrig die Straße beobachtete, machte sie allmählich wütend. Er hatte noch nicht mal gezeigt, dass er ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte. Die wenigen kurzen Momente entspannter Freundschaft mit Ashlyn und Seth bedeuteten nicht, dass sie irgendetwas mit dem Drama, das sie da offenbar aufführten, zu tun haben wollte. »Ich hau ab, Ash. Wir sehen uns dann morgen in der …«
Ashlyn legte eine Hand auf Leslies Handgelenk. »Könntest du bitte bei Seth bleiben? Bitte?«
»Wieso denn?« Leslie sah zwischen Seth und Ashlyn hin und her. »Ist Seth nicht ein bisschen alt, um einen Babysitter zu brauchen?«
Aber als Niall sich ihr zuwandte, lenkte die Bewegung ihren Blick auf seine Narbe. Leslie erstarrte, wollte gleichzeitig hinschauen und schnell wieder wegsehen.
»Aber du könntest doch noch ein bisschen bei uns bleiben, oder?«, fragte er.
Leslie warf Ashlyn einen beschwörenden Blick zu: Bislang hatte sie ihr doch immer geraten, die Finger von Niall zu lassen. Doch Ashlyn hatte nur noch Augen für Keenan. Und der lächelte sie zustimmend an. Vielleicht ist er ja der Grund, warum Ashlyn nicht wollte, dass Niall in meine Nähe kommt . Leslie überlief plötzlich ein ängstlicher Schauer. Keenan mochte ja Ashlyns Freund sein, aber irgendetwas an ihm behagte ihr nicht, und zwar heute ganz besonders.
»Bitte, Les, ja? Tust du mir den Gefallen?«, fragte Ashlyn.
Sie hat Angst.
»Klar, mache ich«, sagte Leslie. Ihr wurde plötzlich schwindlig; sie hatte das Gefühl, als würde an ihrem Innersten herumgezerrt. Dieses Gefühl war so überwältigend, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte – aber so wackelig, wie sie auf den Beinen war, würde ihr ohnehin schlecht werden, wenn sie es versuchte. Sie ging rasch in Gedanken durch, was sie gegessen und getrunken hatte oder was ihre Lippen auch nur berührt hatte. Nichts Ungewöhnliches . Sie blieb reglos stehen und konzentrierte sich auf ihre Atmung, bis es allmählich nachließ, was auch immer es war.
Auch die anderen rührten sich nicht vom Fleck. Sie schienen Leslies Übelkeit nicht einmal zu bemerken.
»Wir machen das schon. Geh nur, Ash«, sagte Seth.
Darauf stiegen Ashlyn und Keenan in einen langen silbernen Thunderbird, der am Straßenrand stand, fuhren davon und ließen Leslie mit Niall und Seth zurück. Niall lehnte sich gegen die Hauswand. Er sah weder sie noch Seth an, sondern wartete einfach auf … irgendetwas .
Leslie trat von einem Bein auf das andere und beobachtete eine Gruppe von Skatern auf der anderen Straßenseite. Sie nutzten die ruhige Nebenstraße, um auf dem Gehweg Tail Slides zu fahren. Nicht dass sie das nicht auch woanders hätten tun können, aber sie waren zufrieden damit, genau da zu sein, wo sie waren. Der Frieden, den sie ausstrahlten, war verlockend. Manchmal hatte Leslie das Gefühl, als wäre dieser Frieden genau das, was sie suchte – in Rabbits Laden, auf den Partys ihrer Freunde. Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt erwischen, ihn einzufangen.
Seth setzte sich in Bewegung, und Niall stieß sich von der Wand ab und sah Leslie mit einem gierigen Ausdruck in den Augen an. Irgendetwas war anders, entfesselt. Er kam langsam auf sie zu, und sie war ganz sicher, dass er verhindern wollte, dass sie weglief.
»Niall?« Seth war stehen geblieben und rief über die Schulter: »Crow’s Nest?«
»Ich würde lieber in den Club gehen.« Niall sah Seth nicht einmal an. Stattdessen schaute er so ernst in Leslies Gesicht, als wollte er sie erforschen. Und das gefiel ihr, viel zu gut sogar.
»Ich muss los«, sagte sie und wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte sich einfach um und ging.
Aber Niall stand wieder vor ihr, bevor sie auch nur sechs Schritte getan hatte. »Bitte. Ich fänd’s wirklich schön, wenn du mitkommen würdest.«
»Warum?«
»Ich bin gern in deiner Nähe.«
Und plötzlich erfüllte sie wieder dieses Selbstvertrauen, das sie, seitdem sie das Tattoo hatte, immer wieder für flüchtige Augenblicke überkam.
»Kommst du mit?«, fragte er.
Sie wollte nicht weglaufen. Sie war es leid, jedes Mal wegzulaufen, wenn sie Angst hatte. Dieses
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