Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
ängstliche Mädchen war nicht die Person, die sie vorher gewesen war; und es war nicht die, die sie sein wollte. Sie schob die Angst beiseite, konnte aber nicht antworten.
Er sah ihr in die Augen und schob sein Gesicht ganz nah an ihres heran. Er küsste sie nicht – aber er näherte sich ihr auf Kussnähe und fragte: »Erlaubst du, dass ich dich in den Arm nehme … um mit dir zu tanzen, Leslie?«
Leslie überlief ein Schauer; in ihr Selbstvertrauen mischte sich eine Sehnsucht nach dem Frieden, den sie beinahe schmecken konnte, Frieden, von dem sie plötzlich sicher war, dass sie ihn finden würde, wenn sie in Nialls Arme sank. Sie nickte. »Ja.«
Elf
Niall wusste es eigentlich besser. Er wusste, dass er es sich nicht erlauben konnte, sich einer derartigen Versuchung auszusetzen. Seine Aufgabe war es, für die Sicherheit der sterblichen Freunde der Königin zu sorgen, während Keenan und Ashlyn den König der Finsternis aufspürten. Seth zu beschützen war einfach: Der Sterbliche war für ihn fast so etwas wie ein Bruder, wie der Bruder, den er sich immer gewünscht hatte. Was Leslie anging, war die Sache komplizierter: Niall wusste, dass er nicht mal darüber nachdenken durfte, eine Sterbliche zu verführen, die er beschützen sollte.
Geh einfach deiner Arbeit nach, genauso wie an jedem beliebigen anderen Tag. Denk an den Hof. Denk an deinen Eid.
Aber es war schwer, an den Sommerhof zu denken – und für den Hof der Finsternis galt dasselbe. Niall war ein Vertrauter beider Könige gewesen, und nun hatte man ihn zum Wächter über ein paar sterbliche Freunde der Sommerkönigin degradiert. Seit Keenan Ashlyn gefunden hatte, die Sterbliche, die dazu bestimmt war, seine Königin zu werden, hatte sich alles verändert. Und obwohl Niall sich für seinen König, seinen Freund, freute, hatte sich in seinem Leben plötzlich eine Leerstelle aufgetan. Nachdem Niall Keenan jahrhundertelang als Berater zur Seite gestanden hatte, war er nun ohne Aufgabe. Er brauchte eine Bestimmung. Ohne sie wurde er … zu einem, der aus dem Sonnenlicht in den Schatten zurücktrat. Die allzu häufig vor seinem inneren Auge aufblitzenden Erinnerungen an das, was er gewesen war, bevor er an den Sommerhof kam, machten ihn nervös.
In Leslies Nähe zu sein, war zu einer Belohnung geworden – und zu einer Strafe. Die unerwartet heftige Sehnsucht nach ihrer Nähe, die er in der letzten Zeit verspürte, verkomplizierte seine ohnehin schon instabile Situation nur noch mehr. Er starrte sie schon wieder an, und Seth bemerkte es.
»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Seth mit einem gezielten Blick auf Leslie.
Niall versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren; Seth kannte ihn zu gut. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
Leslie schien von alldem nichts mitzubekommen, sie war in Gedanken versunken, und Niall wünschte sich, sie würde sie ihm anvertrauen. Er hatte niemanden, mit dem er solche Dinge wirklich teilen konnte. Bis er Ashlyn und Seth zusammen gesehen hatte, war ihm gar nicht bewusst gewesen – oder er hatte es sich nie eingestanden –, wie sehr er sich danach sehnte. Sogar Ashlyn und Keenan waren inzwischen sehr vertraut miteinander, während Niall sich mit ihnen allen immer weniger verbunden fühlte. Wenn er Leslie in seine Arme ziehen und küssen würde, wenn er all seine Zurückhaltung ablegen würde, dann würde eine enge Bindung zwischen ihnen entstehen; dann würde sie ganz ihm gehören, ihren Körper eng an seinen pressen, ihm überallhin folgen.
Die Sterblichen waren sowohl eine Versuchung als auch ein Ärgernis. Die Zärtlichkeiten mancher Elfen – der Gancanaghs, wie Niall einer war und früher auch Irial – machten die Sterblichen süchtig nach mehr. Irial gehörte nicht mehr zu dieser Art von Elfen, seine Natur hatte eine Veränderung erfahren, noch bevor Niall seinen ersten Atemzug getan hatte. Die Thronbesteigung hatte ihn verwandelt; seitdem konnte er die Wirkung seiner Berührungen dosieren. Niall war das nicht möglich: Er blieb mit den Erinnerungen an Sterbliche zurück, die schwach und krank geworden und schließlich gestorben waren, weil er sie nicht mehr berührte. Jahrhundertelang hatten allein diese Erinnerungen ausgereicht, um ihm Zurückhaltung aufzuerlegen.
Bis Leslie kam.
Niall konnte sie auf dem Weg zum Club kaum ansehen. Wenn Seth nicht bei ihnen gewesen wäre … Nialls Puls raste, als die Bilder in ihm hochstiegen, als er sich ausmalte, wie Leslie in
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