Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
sie sich beinahe daran verschluckt hätte.
»Woher kommst du?«, fragte die Elfe.
»Vielleicht hast du mich mal auf der Straße gesehen und erinnerst dich jetzt an mich.« Rae war daran gewöhnt, dass die Lichtelfen sich gegen Raes Anwesenheit in ihren Köpfen wehrten. Es war nicht logisch, von Fremden zu träumen, also benötigten sie häufig ein wenig behutsame Anleitung, um zu akzeptieren, dass sie nur eine Einbildung war.
»Nein.« Die Elfe schüttelte den Kopf. Ihre offenen Haare fielen ihr so lang über den Rücken, dass sie über den mit Blumen übersäten Weg schleiften. In dieser Welt steckten weder Zweige noch Lehmbröckchen in ihren Locken.
Die Elfe wandte sich von Rae ab und blickte auf das Wasser, als sei es ein riesiger Spiegel. Unter der Oberfläche trieben Gesichter vorbei wie das der tragisch ertrunkenen Ophelia. Hat sie jemanden verloren? Der Tod war für Elfen etwas so viel Größeres! Wenn man das Versprechen der Ewigkeit hatte, erschienen Jahrhunderte wie ein Wimpernschlag. Rae begriff immer dann, was solch ein Verlust bedeutete, wenn Devlin darüber nachdachte, was er für seine Königin tat. Ihre Befehle waren Blut an Devlins Händen.
»Wovon träumst du?«, flüsterte Rae.
Die Elfe wandte ihren Blick nicht vom Wasser ab. Silberne Adern krochen aus ihrer Haut und verwurzelten sie dann in der Erde. Rae war von diesem Anblick fasziniert: Elfen hatten sonst nie so ungewöhnliche Phantasien über sich selbst. Sie sahen sich weitgehend so, wie sie in ihrer Wachwelt erschienen, ihr Abbild im Traum war ein bloßer Widerhall der Realität. Sie gehörten dem Hof des Lichts an und folgten dabei, wie bei allem, der Logik.
»Mein Sohn ist von mir gegangen.« Die Elfe blickte zu Rae. »Er ist fort , und ich kann ihn nicht sehen.«
Rae litt mit ihr. Da Elfen so wenige Kinder hatten, musste der Tod eines von ihnen mehr schmerzen als der Verlust anderer nahestehender Elfen. Rae setzte sich neben sie und achtete dabei sorgsam darauf, die von den Händen und Füßen der Elfe ausgehenden Wurzeln nicht zu berühren. »Das tut mir leid.«
»Ich vermisse ihn.« Sechs Tränen glitten die Wangen der Elfe hinab, fielen auf die Erde und blieben dort liegen wie Quecksilbertropfen.
Rae sammelte sie in ihrer Hand und trug sie zum Rand des Flusses. Mit ihren Worten gestaltete sie das Gewässer um und dehnte es aus, bis es ein Meer geworden war.
»Sieben Tränen in die See«, sagte sie zu der Elfe.
Dann ging sie zu ihr zurück, kniete sich neben sie, streckte eine Hand aus und fügte hinzu: »Sieben Tränen für einen Wunsch.« Sie fing eine siebte fallende Träne auf. Die Elfe sah schweigend zu, während Rae sie ins Wasser warf. »Was wünschst du dir? Solange du noch schläfst, kannst du es bekommen.« Rae kniete immer noch neben ihr. »Sag mir, was du dir wünschst.«
Die Elfe starrte Rae an. Ihre Worte wehten dahin wie eine leichte Brise, als sie leise ihren Wunsch formulierte. »Ich möchte meinen Sohn sehen. Meinen Seth.«
Das Meer hinter ihnen verschwand und an seiner Stelle erschien ein Spiegel. Das Spiegelglas war umrahmt von erstarrten Weinreben, die aussahen, als hätte ein Feuer sie geschwärzt. Im Spiegel konnte Rae eine Elfe sehen, die anders aussah als alle anderen, auf die sie je einen Blick erhascht hatte, und so gar nichts von dem strengen Erscheinungsbild der meisten Lichtelfen hatte. Seth trug silbernen Schmuck an der Augenbraue, ein silberner Ring durchbohrte seine Unterlippe und ein langer silberner Stecker mit einer pfeilähnlichen Spitze bohrte sich oben durch seine Ohrmuschel. Blauschwarzes Haar rahmte ein Gesicht ein, das nicht so schön war wie das einer Elfe, sondern sehnsuchtsvoll wie das eines Sterblichen. Seth sah ganz und gar nicht wie der Sohn dieser Elfe aus.
Ist er der Grund, weshalb sie sich mit silbrigen Ankern sieht?
Seth kämpfte mit einer Gruppe von Elfen, die bewegliche Tätowierungen auf ihren Unterarmen hatten. Wären sie Sterbliche gewesen, hätte Rae getippt, dass sie zu der Sorte Menschen gehörten, vor denen man auf die andere Straßenseite ausweicht. Im Spiegel legte Seth gerade seine Arme um eine muskulöse weibliche Elfe und sprang mit ihr durch ein Fenster. Glasscherben splitterten auf den Betonboden in einem karg aussehenden Raum.
Wo sind sie? Hat sie ihren Sohn sterben sehen? Ist es das, was sie dort sieht?
Rae zuckte mitleidig zusammen bei diesem Gedanken.
Doch die Elfe blickte unverwandt in den Spiegel und hob eine Hand, als wollte sie die Bilder
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