Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Labyrinth, und wer sich anhand von Gebrauchsanleitungen oder Wegweisern hineinbegibt, verirrt sich leicht. Einmal ließ Fia jedenfalls etwas von der Affäre gegenüber einem ihrer Verwandten fallen. Sie und dieser Ragnar trafen sich regelmäßig zum Kaffeetrinken, Raggi nannte man ihn oder auch Skandal-Raggi, denn er kennt kaum ein größeres Vergnügen, als Geschichten über die Nöte und Probleme anderer auszugraben und weiterzuverbreiten: Geldsorgen, Alkoholismus, Unglück; er hätte einen hervorragenden Reporter für die Skandalpresse abgegeben. Fia hat es sofort bitter bereut, vielleicht hatte ihr der Neid den Mund geöffnet, der Teufel kennt sämtliche Schliche, es tat ihr sofort furchtbar leid, sie war ganz geknickt, hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Aber auch das größte Bedauern holt die Worte nicht zurück, sie sind in der Welt und führen nun ein Eigenleben, nichts hält sie mehr auf. Die Neuigkeit von der Sache zwischen Kjartan und Kristin machte allmählich die Runde. Geschichten ändern sich, indem sie von Mund zu Mund gehen, das liegt in ihrer Natur, keiner gibt sie haargenau so wieder, wie er sie gehört hat, der Kern der Sache aber bleibt in der Regel der gleiche, und in diesem Fall lautete er in unterschiedlichen Formulierungen: Kjartan auf Samsstaöir und Kristin auf Valþúfur haben eine Affäre, und zwar eine richtig heiße.
Schließlich bekam auch Asdis Wind davon, nicht in Form einer eindeutigen Eröffnung, etwa: dein Mann hat was mit Kristin, sie treiben es ein oder zweimal pro Woche in den Büschen zwischen den beiden Höfen, sie machen es bei jedem Wetter wie die Hunde. Nein, nein, da wurden Andeutungen gemacht, kleine, beiläufige Bemerkungen. Jemand, der völlig ahnungslos war, hätte vermutlich nichts davon verstanden, aber Kjartan war ja schon irgendwie anders, und Asdis machte sich Sorgen wegen Krebs, um abkühlende Liebe, und da sagt auf einmal jemand zu ihr: Ist ja nicht weit zwischen den Höfen, oder: Kommt Kristin eigentlich oft zu Besuch? Oder: Wusstest du, dass Kristin jetzt joggen geht? Hat Kjartan nicht auch mit dem Laufen angefangen? So etwas in der Art. Und da erinnert sich Asdis, dass er letzten Monat tatsächlich oft spazieren gegangen ist, was etwas ganz Neues ist, und zwar immer Richtung Westen.
Ich wünsche, du wärst todkrank, dachte Asdis, wenn sie Kjartan abends ansah. Er saß auf dem Sofa, im Fernsehen lief eine Serie, die Kinder, drei, sieben und neun Jahre alt, lagen schon im Bett. Magenkrebs, dachte sie, das hättest du verdient, oder Darmkrebs, Knochenkrebs, das wäre das Allerbeste. Dann würde dir irgendwann keine Medizin mehr helfen, nicht mal Morphium würde die Schmerzen ausreichend lindern, sie würden dich kaputt machen, deinen Willen und deine Persönlichkeit durch den Wolf drehen. Du würdest dich in deinem Bett wälzen, mein Schatz, und jammern und stöhnen und wimmern und am Ende krepieren. Und ich könnte dich zu Tode pflegen und dann um dich trauern. Asdis lächelt. Kjartan sieht dieses Lächeln aus den Augenwinkeln und fühlt sich überhaupt nicht wohl dabei, hat Mühe, sich auf den Film zu konzentrieren, er verliert den Faden. Ich fühle mich irgendwie k. o., sagt er, vielleicht hast du Knochenkrebs, gibt sie honigsüß zurück. Überrascht sieht er sie an, sie blickt zurück, mit einem freundlichen Gesicht, das überhaupt nicht zu dem Wort Knochenkrebs passt. Das Haus bebt ein bisschen, es schwankt eine Ahnung hin und her, Kjartan krallt die Finger ins Sofa, versucht zu lächeln, aber es kommt nur eine Grimasse dabei heraus. Sag so was nicht, bringt er heraus, ich bin bloß müde. Er erhebt sich, geht, und das Haus ist auf einmal ein Schiff in schwerem Seegang, trotzdem schafft er es ins Schlafzimmer, legt sich zu Bett, ohne die Zähne zu putzen, ohne noch mal zu pinkeln, ohne zu beten, was er sowieso seit zwanzig Jahren nicht mehr tut, aber jetzt wäre vielleicht der rechte Zeitpunkt, damit wieder anzufangen. Kjartan liegt da, guckt an die Decke und denkt: Lieber Gott, sie weiß es, sie weiß es, sie weiß es! Er verfällt in Panik, ist dermaßen erleichtert, ist todtraurig und voller Selbstverachtung, er hasst Kristin mit jeder Zelle seines Körpers. Asdis sitzt noch unten, sie macht das Licht aus, um nach draußen gucken zu können, vergisst aber, den Fernseher auszuschalten, und er füllt den Raum mit diesem blauen Licht, das den Menschen inwendig ausleuchtet und seine innere Landschaft verändert.
Vier
Anfangs unternahm Asdis gar
Weitere Kostenlose Bücher