Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
nichts.
Die Tage vergingen.
Sie beobachtete Kjartan mit der Abgeklärtheit und Konzentration eines Soziologen, nahezu von seiner Schuld überzeugt, aber eben noch nicht zu hundert Prozent, sondern vielleicht zu fünfundneunzig, sechsundneunzig Prozent, und immer noch in der Hoffnung, sie würde sich irren, allem läge etwas ganz anderes zugrunde, eine Depression, erkaltende Liebe oder Krebs. Aber leider deutete wenig darauf hin, sie dachte zurück, erinnerte sich an sein ungewöhnliches Interesse an Spaziergängen, seine zahlreichen Gänge in westlicher Richtung, seine seltsame Rastlosigkeit, ehe er aufbrach, manchmal rasierte er sich vorher sogar, kämmte sich und kam anschließend in eigentümlichen Stimmungen zurück, manchmal traurig, manchmal als schäme er sich für etwas, manchmal wütend und manchmal grenzenlos fröhlich. Kleinigkeiten, Details, die sie früher fast unbewusst registriert hatte, tauchten auf einmal wieder in ihr auf. Der Blick, mit dem Kristin Kjartan beim letzten Fest kurz angesehen hatte, Kjartans Hand auf Kristins Taille beim gleichen Ball, die unnatürlich gezwungene Stimme Kjartans, wenn er Kristins Namen aussprach, seine zitternden Hände, als sie Kristin und Petur einmal im Laden trafen. Ich bin blind gewesen, dachte Asdis, ich habe es den ganzen Winter vor Augen gehabt, aber außer meinen Kursen habe ich nichts mitbekommen, und Kjartan hat die Gelegenheit ausgenutzt. Asdis grübelt und rekonstruiert, Schauder überlaufen sie aus Angst, aus Trauer, aus Wut vielleicht oder Hass, sie guckt aus dem Fenster und sieht lange dem Tollen der drei Welpen zu, die die Hündin im Januar geworfen hat. Einer von ihnen hat einen weißen Fleck auf der Stirn, genau wie der Hund auf Valþúfa.
Es passt alles zusammen.
Die Gewissheit stieg von sechsundneunzig auf neunundneunzig Prozent, das eine, das noch fehlte, war der Strohhalm über dem Abgrund. Doch ein einziger Strohhalm hat noch nie einen Menschen lange gehalten, der Absturz droht, der Abgrund saugt und zieht. Keine lebensbedrohliche Krankheit, nichts als eine miese, beschissene Affäre.
Seitensprung,
seinen Ehepartner betrügen, eine sexuelle oder Liebesbeziehung mit jemand anderem als dem eigenen Partner / der eigenen Partnerin eingehen. Seitensprung – ist mit dem Substantiv Weltuntergang verwandt.
Jetzt war Asdis diejenige, die nicht schlafen konnte.
Sie lag da und starrte an die Decke, ein Spielball der Ungewissheit und verschiedenster Empfindungen, die alle aus der unterdrückten Wut in ihr herrührten. Sie lag da und lauschte Kjartans tiefen Atemzügen, die gelegentlich von einem Schnarcher unterbrochen wurden. Ich verlange die Scheidung, mich ekelt vor ihm, nein, es ist meine eigene Schuld, ich habe mich nur noch um mich gekümmert, hatte jedes Interesse verloren, immer sage ich, nicht jetzt, später, heute Abend, morgen, ich mache mich für ihn nicht mehr zurecht, laufe hier zuhause herum wie eine Vogelscheuche. So lag sie da und konnte nicht schlafen, und über allem lag Nacht. Sie dachte, ich habe mich nicht genug um den Haushalt gekümmert, die Kinder vernachlässigt, meine ganze Energie und Aufmerksamkeit habe ich ins Lernen gesteckt, nur daran denke ich noch, ich denke nur noch an mich, und jetzt habe ich die Quittung dafür bekommen. Beziehungen muss man pflegen, dachte sie. Sie lag auf dem Rücken, atmete schwer, und der Himmel war so finster draußen. Nein! Es ist nicht meine Schuld, vielleicht zu einem ganz unbedeutenden Teil, aber nicht mehr, ich tu ihm doch nicht den Gefallen und mache mir auch noch selbst Vorwürfe! Er hat mich doch betrogen, die Kinder verraten und sich selbst. Er ist schuld! Oder doch nicht, es liegt an mir, es ist mein Versagen. Leise stand Asdis auf, ging nach unten und zog das blaue Nachthemd aus, nackt stand sie im Flur und betrachtete sich in dem großen Spiegel. Die Brüste kaum mittelgroß, einst schön fest, inzwischen aber müde hängend, als könnten sie sich nicht länger wach halten, die Taille gerade wie bei einem Jungen, keine verführerischen Kurven, die lüstern machen, der Bauch hässlich, schrumpelig und allzu schlaff nach drei Schwangerschaften. Sie betrachtete ihren Körper, untrainiert von viel zu wenig Bewegung, ich bin hässlich, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, ich bin langweilig.
So vergingen Tage, und so vergingen Wochen. Asdis wurde zwischen unterschiedlichen Empfindungen hin und her gerissen, sie war aufbrausend, sie war schnippisch, kontrollierte ihren Mann genau, war
Weitere Kostenlose Bücher