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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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darauf aus, dieses eine Prozent auch noch ausschließen zu können, wartete darauf, dass der letzte Halm auch noch nachgab und der Abgrund sie verschlingen würde. Und dann ging er eines Tages wieder los, Richtung Westen.
    Erst hatte er lange draußen herumgepusselt, aber auffallend fahrig und immer zum Haus herüberspähend, aber wegen der Blumen auf der Fensterbank hatte er sie nicht sehen können, und sich irgendwann auf den Weg gemacht. Zunächst langsam, dann schneller, und als sich die Kuppen, Anhöhen und Hügel dazwischenschoben, hatte er ein ganz schönes Tempo drauf. Er ist auf dem Weg zu ihr, dachte Asdis am Fenster und sog den Duft der Blumen ein, während ihr Körper taub wurde. Sie setzte sich, konnte nicht mehr stehen, die Wanduhr zählte die Sekunden, die Minuten, begleitete sie und hielt sie zusammen wie eine Herde Schafe. Asdis sammelte Kraft, um aufzustehen, ging dann zur Treppe und lauschte nach oben zu den Kindern. Kolbrün, die Älteste, war noch zuhause, um sich von einer Erkältung zu erholen, und die Jüngste, Dilja, rumorte mit den Legoklötzen im Zimmer ihrer Schwester. Asdis ging zurück ins Wohnzimmer und suchte für den Fall, dass Dilja herunterkommen sollte, ein Video heraus, sie konnte sich jetzt nicht um sie kümmern, hatte große Angst, sich nicht beherrschen zu können und das Kind für etwas auszuschimpfen, für das es gar nichts konnte. Die Wanduhr verrichtete ihre Arbeit, hatte bereits zwanzig Minuten gezählt und sagte immer weiter tick, tack, tick, tack. Asdis saß reglos in einem Sessel, äußerlich völlig ruhig; erstaunlich, wie wenig an der Oberfläche zu merken ist. Sie saß da, als würde sie gerade noch einmal die Konjugation deutscher Verben durchgehen oder Kuchenrezepte oder den roten Faden in einem Roman, welche Kuh als Nächste trächtig werden könnte, doch in ihr schoss alles durcheinander, brodelte es, denn in Gedanken begleitete sie Kjartan, stellte sich alles bildlich vor, und sie bebte innerlich vor Hass, reine Mordlust loderte in ihr auf, sie wurde völlig verzweifelt, von Trauer überwältigt und von Wut, und das war noch das beste Gefühl, am schlimmsten war es, als sie schieres Verlangen übermannte, da zuckten ihre Arme, doch dann war es vorbei, es platzte wie eine Seifenblase, und zurück blieb ein bitteres Schamgefühl und beträchtliche Selbstverachtung. So saß sie da, draußen ein blauer und kühler Apriltag, der Himmel in weiter Entfernung, und die Wanduhr verwaltete die Zeit. Dann kam jemand auf den Hof.
    Er war zurück.
    Fertig gefickt.
    Einmal mehr alles verraten, was schön und gut war. Wie konnte er seine Kinder ansehen, ohne blass zu werden, ohne zu Asche zu verbrennen? Sie sollte ihm die Augen ausstechen, er würde ihr noch dankbar sein dafür. Schnell stand sie auf, ging in die Küche, setzte Brotteig an und war beschäftigt, als er hereinkam, ließ sich nichts anmerken und hörte sogar Radio. Kjartan wollte mit ihr reden, er war ganz eifrig, wollte die Sommerferien planen, wir sollten mal ins Ausland fahren, was hältst du von Kopenhagen? Das Tivoli und Bakken für die Kinder. Ja, und der Straßenstrich von Istegade für dich, dachte sie und grub die Hände in den Brotteig, wahrscheinlich um sie von seinem Hals abzuhalten. Ihre Einsilbigkeit brachte ihn zum Verstummen, er verzog sich ins Wohnzimmer. Ich sollte mal duschen, murmelte er und tat es. Er ging unter die Dusche, wusch sich Kristins Geruch ab, und das heiße Wasser floss über seine breiten Schultern. Als er zurückkam, war sie verschwunden. Musste mal eben weg, sagte Kolbrün. Wohin? Keine Ahnung. Kjartan ging ins Wohnzimmer, stellte sich mit dem Fernglas ans Fenster, konnte das Auto aber nirgends entdecken, Hügel und Höhenzüge verdecken die Sicht zwischen Sämsstaöir und Valþúfur.
    * * *
    Asdis sitzt in Valþúfa am Küchentisch, Kristin ist gerade hereingekommen, ihre Schwiegermutter Lära wirft die Kaffeemaschine an, Petur ist draußen beschäftigt, ein großer, leicht gebeugter Mann, schmal, fast hager und mit langem Gesicht, er wirkt meist ernst, und es gibt Leute, die behaupten, er hätte nie gute Laune oder könne nie einmal fröhlich sein. Noch ist das Aprillicht klar, doch bald kommt der Nachmittag mit gedämpfteren Farben. Es hat nie viel Kontakt zwischen den beiden Höfen gegeben, Streit kann man es nicht nennen, aber es gibt eine tief verwurzelte latente Gereiztheit, die Kjartan und Petur von ihren Eltern und deren Eltern geerbt haben, eine gewisse Hitze eben, die

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