Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
Vom Netzwerk:
gehört. Die Menschen halten die Knarre in der Hand und faseln davon, dass das Leben heilig sei. Wenn es auch nur einen Funken Verstand in der Welt gäbe, wären wir alle zu einem Lateinkurs in die Stadt gefahren und hätten ein neues Leben begonnen, und dann sähe die Welt vermutlich besser aus.
    Matthias: Ich könnte dir so manche Geschichte von der Dummheit in der Welt erzählen und kann das hoffentlich irgendwann tun, aber was macht er, oder besser, wovon lebt er eigentlich?
    Elisabet: Tja, er hält monatlich einen Vortrag hier im Gemeindezentrum und bekommt dafür Geld von irgendwelchen Nordischen Zusammenarbeitsfonds. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Töpfe es gibt, um das Leben in strukturschwachen Gebieten zu fördern.
    Matthias: Einmal im Monat. Davon wird er kaum leben können.
    Elisabet: Nein, da ist auch noch etwas anderes, was seine meiste Zeit einnimmt und worum sich sein Leben jetzt dreht, wenn auch in aller Stille. Ich glaube, die Leute hier wissen wenig oder gar nichts davon, aber er ist in irgendwelchen Weltvereinigungen, deren Namen ich mir nie merken kann. Er ist bald, nachdem er Latein gelernt hat, mit ihnen in Berührung gekommen. Sie haben schlichtweg das Ziel, das vor dem Untergang zu bewahren, was für unsere Kultur wichtig ist. Das sind schwerreiche Vereine, die Leute wie ihn unterstützen, er korrespondiert auch mit vielen Gleichgesinnten, und letztes Jahr sind zwei von ihnen hier im Ort aufgetaucht, ganz heimlich, muss ich sagen, nur Davið und ich haben sie gesehen. Nette Leute, eine Frau um die vierzig aus Ungarn, ich glaube, sie war einmal Doktor der Philosophie und hatte eine gute Stelle an der Budapester Universität, war verheiratet und hatte ein Kind, aber gab das alles auf, genau wie unser Astronom, dabei war sie blitzgescheit und dunkel wie eine Zigeunerin, sah ziemlich gut aus, und ich habe den Verdacht, zwischen den beiden ist was gelaufen, ich hoffe es jedenfalls.
    Matthias: Und wer war der Zweite?
    Elisabet: Ein Deutscher, ehemaliger Fußballstar, seinerzeit natürlich rank und schlank, mittlerweile aber so fett aufgedunsen, dass er sich kaum noch bewegen konnte, bis auf die Zunge, die stand fast nie still, er quasselte ohne Pause, hatte dabei aber einen Mundgeruch, dass es mich fast umgehauen hätte. Fast ein Wunder, dass die Ungarin die lange Fahrt mit ihm in einem Auto überlebt hat.
    Matthias: Und wovon hat dieser deutsche Fußballer gesprochen? Konntest du dich mit ihm auf Deutsch unterhalten?
    Elisabet: Ja, ein wenig, und sonst mit Englisch, wenn mein Deutsch nicht reichte. Er hat über alles Mögliche gequatscht, wie so redselige Leute es gern tun, kam von einem aufs andere, vom Hölzchen aufs Stöckchen in einem Satz, aber immer wieder kam er auf ihre Aufgabe zurück oder auf ihre Rolle als Retter von allem, was aus einer sterbenden Kultur zu retten ist. Die behaupten geradezu, dass unsere Kultur, die westliche, am Abgrund steht und …
    Matthias hob die linke Hand: Wer durch Europa gereist ist, kann dem schwerlich widersprechen, und wer amerikanisches Fernsehen gesehen hat, wird dem sogar kräftig zustimmen – und es obendrein begrüßen. Aber ich verstehe mich andererseits nicht auf solche Rettungsarbeiten …
    Elisabet musterte ihn eingehend, als würde sie seine Gesichtszüge mit den Augen abtasten. Die betrachten Latein als eine Art Festplatte. Alles, was wichtig ist, ist darauf gespeichert, ich kann es später genauer erklären, aber diese Ungarin hat mir gefallen, die hatte so viel Leben in sich, dass man einfach von ihr angetan sein musste. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, sonderlich viel anzuziehen, lief mehr oder weniger halbnackt herum. Der Deutsche hat darauf überhaupt nicht reagiert, er schien in dieser Hinsicht völlig unempfänglich zu sein, aber das kann man von unserem Astronomen nicht behaupten. Zum Glück. Mann, sah die gut aus!
    Matthias beugte sich leicht vor: Aber jetzt sag mir, war diese Ungarin noch schöner als Daviðs Mutter?
    Nun sah Elisabet Matthias forschend an. Ich weiß nicht, nein, wahrscheinlich nicht, aber sie hatte dieses slawische Aussehen, auf das wir Isländer anscheinend so leicht anspringen.
    Matthias grinste, dann sagte er: Ich habe im Urwald manchmal an sie gedacht.
    Elisabet: Du hast an sie gedacht?
    Matthias: Im Wald geht einem vieles durch den Kopf, besonders wenn ein großer Fluss hindurchströmt.
    Elisabet: Hast du auch an mich gedacht?
    Matthias: Ja, aber hör mal, man starrt Menschen nicht so unentwegt

Weitere Kostenlose Bücher