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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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bist du nie von hier fortgegangen, wie ich?
    Sie zuckte mit den Schultern. Weil hier mein Schicksal ist.
    Matthias: Wir wissen nichts über das Schicksal.
    Elisabet: Dann habe ich eben gewartet.
    Matthias: Worauf?
    Elisabet: Ich weiß nicht, und wenn ich es doch weiß, sage ich es dir später einmal. Manchmal gefällt es mir auch, hier zu leben. Es ist schön, es ist ruhig, und ich komme zu mir selbst.
    Matthias: Aber es ist doch das allerletzte Kaff.
    Elisabet: Das hängt von dir selber ab, davon, was du willst und wie du bist.
    Matthias: Kaff bleibt Kaff, daran ändert auch keine Perspektive was. Hier ist nichts los, du bringst einen ganzen Winter auf einer Postkarte unter, die Leute sind immer im Tran, wer etwas bewegen will, geht weg. Was bleibt, geht kaputt.
    Elisabet: Nicht, wenn man mit sich allein zurechtkommt. Und natürlich tut sich hier was. Das Wetter ändert sich ständig, der Himmel ist in Bewegung, manchmal scheint er sogar Schieflage zu haben, und dann ist nichts mehr im Leben sicher, nie wird es zweimal auf die gleiche Weise hell, und irgendwann muss ich dir mal vom Tod des alten Björgvin erzählen, dem als Filialleiter Finnur Asgrimsson nachfolgte.
    Matthias: Der Minister?
    Elisabet: Genau.
    Matthias: Der ist hierher gekommen?
    Elisabet: Ja. Und er wollte hier seine Memoiren schreiben, ist aber nicht damit fertig geworden und plötzlich verschwunden, oder um es genau zu sagen: Eines Tages ist er mit dem Abend verschmolzen.
    Matthias: Menschen lösen sich nicht auf, sie treten ab. Ich glaube, das gilt besonders für ehemalige Minister.
    Elisabet: Du darfst gern deine Überzeugungen haben, aber das, was geschieht, richtet sich nicht sonderlich nach unseren Ansichten.
    Matthias seufzt: Im Argumentieren habe ich nie eine Chance gegen dich gehabt, und daran hat sich offenbar nichts geändert. Soweit ich weiß, stand die Strickfabrik letztes Mal leer und es gab irgendwelche Träume voller Latein …
    Elisabet: Genau darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, du solltest ihn heute einmal sehen!
    Matthias: Ich habe aus dem Bus sein Haus gesehen.
    Elisabet: Den Nachthimmel.
    Matthias: Wie?
    Elisabet: Den Nachthimmel. So nennen wir sein Haus.
    Matthias: Na klar. Und für ein paar Bücher hat er alles weggegeben.
    Elisabet: Stimmt, aber man könnte besser sagen, ihm sei ein neues Leben zuteilgeworden. Eines Morgens ist er mit einer derart anderen Weltsicht aufgewacht, dass er quasi ein anderer Mensch geworden war. Er blickte sich um und konnte sich mit nichts in Verbindung bringen, es war ihm alles fremd. Es war nicht sein Haus, es waren nicht seine Möbel, es war nicht einmal seine Frau, und wozu an etwas festhalten, was einem nicht gehört?
    Matthias: Das geht mir ein bisschen zu schnell, oder willst du mir sagen, er habe so etwas wie eine Erleuchtung gehabt?
    Elisabet fährt leicht mit dem Zeigefinger über den Rand der Kaffeetasse, sie hat kleine Hände, und Matthias beobachtet hingerissen die Bewegung ihres Fingers. Als Tolstoi auf die fünfzig zuging, hat sich sein Leben total verändert, man kann es wirklich eine Revolution nennen. Er war einer der bedeutendsten Schriftsteller der Welt, hatte Krieg und Frieden geschrieben und Anna Karenina, er war ein starker Mann, ja ein Besessener, trank gern und viel, liebte Glücksspiele, war ein leidenschaftlicher Jäger und hatte starke sexuelle Bedürfnisse, zu starke, wie seine Frau fand, und eines Tages hat sich alles geändert. Sein ganzer Erfolg, sein Lebenswerk, alles zerfiel zu Staub, selbst die eigene Familie wurde ihm fremd, sein eigener Körper war roh, der Sex grob. Er musste noch einmal ganz von vorn anfangen, sein Leben, seine Arbeit als Schriftsteller, und nichts war mehr wie vorher.
    Matthias reißt seinen Blick von ihrem Zeigefinger los, schaut zur Seite und merkt an: Ich habe einmal Krieg und Frieden gelesen.
    Elisabet: Vielleicht sollten wir uns über solche Umstürze gar nicht so sehr wundern, denn wenn man all das denkt, was in der Welt nicht zusammenpasst, ist es eigentlich ein Wunder, dass sie nicht häufiger vorkommen. Beispielsweise glauben die meisten von uns an Gott und Jesus Christus und machen eine Menge Theater um das, was sie gesagt haben, wir lernen die zehn Gebote auswendig, und etliche von Jesus’ Äußerungen sind unter uns geflügelte Worte. Wenn man überhaupt von einem gemeinsamen Kern in unserer westlichen Kultur reden kann, dann ist es die Botschaft Jesu – und trotzdem leben wir Tag für Tag, als hätten wir nie davon

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