Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
uns daran, dass wir ein Teil des Ganzen sind, erklärte er. Wir gucken uns die Karte gern an, ist schon verblüffend, wie klein Europa ist, die Schweiz zum Beispiel kann man kaum erkennen, und trotzdem gibt es dort Seen und hohe Berge. Gaui kam dann mit einer schönen und übersichtlichen Europakarte und wollte, dass wir sie neben der Weltkarte aufhängen. Um die Sache wieder ins rechte Licht zu rücken, wie er es ausdrückte. Aber Matthias lehnte ab und hängte stattdessen eine große Karte unseres Bezirks daneben. Inzwischen erwarten uns im Lager aber nicht nur die Welt und unser Heimatbezirk, vielmehr stapeln sich auf der Ladentheke nun auch Ansichtskarten, die Elisabet in rauen Mengen gekauft hat, als sie im Sommer mit Matthias durch Deutschland und Tschechien reiste. Matthias, David und Kjartan fordern jeden Kunden auf, sich eine mitzunehmen und sie zuhause gut sichtbar aufzuhängen, zum Beispiel am Kühlschrank. Es ist immer das gleiche Motiv: eine Farbaufnahme von japanischen Bergaffen, die in einer warmen Quelle sitzen, sodass nur noch der Kopf rausschaut. Jedes Jahr, wenn es kalt wird, ziehen sich die Affen in die warme Quelle zurück und bleiben tagelang darin hocken, nur der Kopf guckt raus, draußen herrschen Kälte und Sturm, und nur der Hunger treibt sie manchmal raus, aber sobald sie sich den Bauch vollgeschlagen haben, kehren sie ins warme Wasser zurück. Matthias wird nicht müde zu erklären, dass wir uns in Wahrheit genauso verhalten wie diese Affen, der Unterschied wäre bloß, dass wir unsere Quelle nicht einmal für die Nahrungssuche verlassen müssten, die Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten würden sich so um uns auftürmen, dass kaum noch der Kopf herausschaute.
Eines Tages erschien der Astronom im Lager, nahm gleich zehn Postkarten mit und meinte, die wolle er seinen Kollegen im Ausland schicken. Wäre ja interessant, zu erfahren, was er der Ungarin geschrieben hat, und wie sagt man wohl »Ich begehre dich« auf Latein? Der Astronom hat laut gelacht, als er das Foto mit den Affen gesehen hat. Lachen tut gut, manchmal unbeschreiblich gut. Aber das Leben entwickelt sich hierhin und dahin und endet manchmal mitten in einem Satz. Zuweilen gibt es nichts Schöneres, als frühmorgens aufzuwachen, nur um über das Meer zu gucken und die Zeit vergehen zu lassen.
Das Meer, eine Tasse Kaffee, schnatternde Eiderenten, überspülte Ufersteine, die wieder an die Oberfläche kommen, um zu atmen. Ich tue zweierlei: atmen und an dich denken. Jetzt ist nur noch eine Geschichte übrig, die wir erzählen müssen, oder vielmehr ein bestimmtes Schicksal, Dinge, die sich in dem Sommer zugetragen haben, bevor Elisabet die Buchstaben abnahm und Äki in den Ort kam. Die richtige zeitliche Reihenfolge interessiert uns nicht oder wir konnten sie einfach nicht einhalten. Eine Geschichte noch, und dann ist es zu Ende, oder doch nicht.
Was für eine armselige Welt wäre das ohne sie
Þuríður ist groß und kräftig, sie versieht den Telefondienst im Gesundheitszentrum, macht dort die Krankenaufnahme und bedient in der Apotheke, ist Arnbjörns Sprechstundenhilfe und erleichtert Schwester Guöriöur das Leben, denn die bekommt leicht Depressionen, wird von Hoffnungslosigkeit befallen und schafft es dann kaum, dem Tag ins Auge zu sehen, turiöur ist dagegen eine ganz positive Person, eine tiefsitzende Form von Freude oder Helligkeit scheint bei ihr durch die Haut zu leuchten, ihre freundliche Art und dieses Leuchten, das aus ihrem Inneren ausstrahlt, haben uns mehr als einmal Hoffnung gegeben, dass das Leben am Ende vielleicht doch nicht so schrecklich ist, dass es womöglich doch einen Sinn im Leben gibt. Manchmal lacht fmriöur so laut und markerschütternd, dass unsere inneren Organe zu vibrieren beginnen.
Doch hinter dem Lachen, unter dem Leuchten und ihrer Wärme verbarg sich ein heißes Verlangen, das noch nie seine Erfüllung gefunden hatte. Þuríður war fünfunddreißig, mehr als eins achtzig groß und kräftig, ohne dick zu sein, manchen Männern war es wegen ihrer Größe peinlich, mit ihr zu tanzen, und ein paar Jahre lang hatte sie ernsthaft erwogen, wegzuziehen, diesem starken heimlichen Verlangen nachzujagen, das sie nachts wach hielt und sogar an ihrer Lebensfreude nagte. Das hier ist ja nicht mehr als eine 400-Seelen-Gemeinde, vielleicht noch 500 mehr in der weiteren Umgebung, aber insgesamt äußerst begrenzte Möglichkeiten für eine große und kräftige Frau von Mitte dreißig, einen Partner,
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