Sommermond
Ablenkung.
Gedanklich erschöpft lehnte er sich gegen das kühle Glas und stellte seine Tasche neben sich ab. Dabei erinnerte er sich an das Gespräch zwischen ihm und Max. Daran, wie ihm plötzlich bewusst geworden war, wie sehr er sich verändert hatte. Und das war wahr. Er hatte sich verändert. Früher hatte es nur Nick an seiner Seite gegeben. Heute gab es Nick und Alex und den Kunststudenten. Natürlich liebte er nur Alex. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass seine Hormone seit einigen Tagen oftmals die Oberhand gewannen und ihn in einen triebgesteuerten Kerl verwandelten, der sich seine attraktiven Gegenüber beim Sex vorstellte. Vermutlich war das normal. Aber für ihn war es das nicht. Er war immer treu gewesen. Nicht nur körperlich, sondern auch in Gedanken. Deshalb löste Peers Kennenlernen gewisse Irritationen in ihm aus.
Gerade als er einen Blick auf seine Armbanduhr werfen wollte, begann ein Gemurmel hinter der verschlossenen Tür des Seminarraums, das langsam lauter wurde und sich ungehindert auf ihn zubewegte. Ben nahm seine Tasche und rutschte von der Fensterbank. Die Tür öffnete sich und gleich darauf sprudelte eine Masse gemischter Studenten aus ihr heraus. Ganz hinten Max und Isabelle, die mit Professor Baumann redeten. Der nickte unentwegt und zog die Tür hinter sich zu. Nachdem er sie abgeschlossen hatte, drehte er sich um und entdeckte Ben.
„Herr Richter!“, begrüßte er ihn. „Wie geht es Ihnen?“
Flensburg war keine Stadt, sondern ein Dorf. Ein Dorf, in dem sich jede noch so kleinste Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitete.
„Ganz gut“, erwiderte Ben. „Vorhin war mir nur etwas schlecht. Es tut mir leid.“
„Das braucht Ihnen doch nicht leidtun“, entgegnete Baumann. „Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich in Ihrem Zustand überhaupt hierher wagen.“
Ben lächelte höflich. In der Zwischenzeit traten Max und Isa auf ihn zu und stellten sich neben ihn.
„Sie haben abgeschlossen“, stellte Ben fest. „Fällt der zweite Block aus?“
Professor Baumann nickte. „Wir machen morgen weiter. Ich habe gleich einen wichtigen Termin. Aber Herr Lehmann hat fleißig mitgeschrieben. Er lässt Sie seine Unterlagen sicher kopieren.“
Herr Lehmann war Max, der die Aussage des Professors mit einem Nicken bestätigte.
„Danke“, meinte Ben in dessen Richtung.
„Kein Problem, Alter“, entgegnete Max und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Isabelle stand dicht bei ihm. Ihre zierliche Hand war mit der kräftigen von Max zu einer Einheit verschmolzen. Professor Baumann warf den dreien noch ein verabschiedendes Nicken zu, bevor er sich abwandte. Ben sah ihm nach und wollte sich dann an Max wenden, um all seine aufgestauten Neuigkeiten loszuwerden, als Professor Baumann etwas entfernt noch einmal stehen blieb und fragend in Bens Richtung blickte.
„Eine Kollegin sagte mir, Sie hätten sich letztes Semester nach einem Stipendium für die USA erkundigt und danach, wie Ihre Chancen wohl ständen“, sagte er.
Sofort spürte Ben einen irritierten Blick seitens Max, den er allerdings gekonnt ignorierte. Stattdessen nickte er in Richtung des Professors.
„Ich habe mich da für Sie schlau gemacht. Immerhin sind Sie einer unserer Besten.“
„Was ‘n Streber…“, warf Max ein.
„Ihre Chancen stehen sehr gut“, fuhr Professor Baumann fort. „Sie sind engagiert, weisen überdurchschnittlich gute Leistungen auf und absolvieren freiwillig Praktika während der Semesterferien.“ Er pausierte kurz und klemmte seine Aktentasche fester unter seinen Arm. „Ich werde Ihnen morgen ein paar Unterlagen mitbringen. Die können Sie dann in Ruhe durchschauen.“ Erneut pausierte er und wechselte die Aktentasche nun unter den anderen Arm. „Sie sollten sich bewerben“, sagte er. „Wenn nicht Sie, wer dann?“
Er ließ die Frage offen, wandte sich wieder ab und führte seinen Weg durch den Flur fort.
Ben blieb überrascht zurück. Max und Isabelle ebenfalls.
„Davon haste echt nie was erzählt“, meinte Max sofort.
„Wovon denn auch?“, entgegnete Ben. „Ich hatte das doch bloß angefragt. Mehr nicht.“
„Ey, Mann! Stell dir mal vor, die nehmen dich! Dann schipperst du rüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“
„Ich glaub‘, ich bevorzuge dann doch ‘nen Flug“, grinste Ben.
„Wahnsinn!“, sagte nun Isabelle. „Ich wünsche dir das von ganzem Herzen. Du hast das echt verdient.“
„Danke“, erwiderte Ben. „Aber ehrlich gesagt weiß
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