Sommermond
wischte sich Rotz und Tränen von den Lippen und schlug seine Augen wieder auf. Er starrte zum vor der Gitarre liegenden Handy und versuchte sich zu sammeln. Er wusste, dass er überreagierte. Eigentlich war das nie seine Art gewesen. Doch seit er Alex kannte, neigte er zu dieser sentimentalen Reizüberflutung.
Vereinzelte Tränen zogen warme Linien über seine Wangen. Er leckte sie von seinen Lippen und zog seine Nase hoch. Dann atmete er tief durch und erhob sich vom Bett. Er ging in die hintere Zimmerecke, bückte sich und griff nach dem Handy. Auf dem Display glänzte ein frischer Kratzer. Eine Narbe. Vermutlich war sie das Einzige, was ihm nach dem Telefonat noch blieb. Das Einzige, was ihm unweigerlich verdeutlichte, dass es vorbei war. Und für den Bruchteil einer Sekunde, in dem all sein Schmerz von Vernunft überdeckt wurde, war er sogar fest davon überzeugt, dass dieses Aus das Beste war. Alex war ein Teil aus seiner Zeit in Hamburg. Einer Zeit, in der es viele Probleme und Sorgen gegeben hatte. Und damit war Alex ein Teil seiner Vergangenheit. Aber er lebte in der Gegenwart und hatte noch etwas vor sich, das er nicht aufgeben durfte: seine Zukunft.
16
Alex, der gerade erst nach Hause gekommen war, stand mit dem Telefon in der Hand im Flur. Er konnte kaum glauben, was Ben ihm soeben an den Kopf geworfen hatte. Wütend eilte er die Treppen hinauf, hastete in sein Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Ihm war kalt. Bis vor einer Stunde hatte er noch am Bahnhof gestanden und Koks vertickt. Mittlerweile dachte er ganz normal über diese Tatsache nach. Gerade so, als ob er schon immer als Dealer gearbeitet hätte. Vermutlich war seine Gleichgültigkeit bezüglich dieser Sache jedoch auf seine psychische Blockade zurückzuführen, die ihm dabei half, den ganzen Mist zu meistern. Er konnte keine Gefühle mehr an sich heranlassen, weil er wusste, dass er sonst unter ihnen zusammenbrechen würde. Doch genau dieser rationale Schutzwall schien nun, nach dem Telefonat mit Ben, zu bröckeln. Und das war es, was ihn so wütend machte.
Während er alles in seiner Macht stehende tat, um Ben zu schützen, und sich dabei ganz hinten anstellte, tat der Dunkelhaarige nichts anderes, als ihm Vorwürfe zu machen. Natürlich konnte Ben nicht ahnen, wie sehr er Alex damit verletzte. Wie auch? Er wusste ja nichts von Alex‘ Machenschaften. Das Einzige, was er wusste, war, dass Alex ihre Beziehung mit der Begründung einiger stupider Ausreden auf Eis legte. Deshalb war ihm seine Reaktion eigentlich nicht zu verübeln. Dennoch machte sie Alex zu schaffen. Er war am Ende seiner Nerven und wusste nicht, wie lange er alledem noch standhalten konnte. Ungewollt war er in eine Position gedrängt worden, in der viel Druck und Verantwortung auf ihm lastete. Zwei Mafias spielten ihr Spiel mit ihm und er musste ihre Regeln befolgen, ohne dabei etwas falsch zu machen. Jeder noch so kleine Fehler könnte ihn auffliegen lassen. Das Schicksal von ihm und Ben lag einzig und allein in seinen Händen. Das war eine schwere Bürde. So schwer, dass er keine weitere Last mehr aushalten konnte. Deshalb musste er seine Gedanken an Ben ausschalten, um sich nicht von wirren Emotionen in ein überfordertes Wrack zurückverwandeln zu lassen.
Er schritt zum Spiegel und betrachtete sein Ebenbild, das durch die vielen Sprünge im Glas etwas versetzt aussah. An seine kurzen Haare hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Sie waren schon ein paar Millimeter nachgewachsen.
Er war innerlich angespannt. Als er seine Hände zu Fäusten ballte und dabei spürte, wie sich seine Fingernägel in seine Haut bohrten, konnte er auch die harten Narben fühlen, die ihn immer wieder an den heftigen Streit mit seinem Vater und den ersten Kuss mit Ben erinnerten. Ohne den Schlag gegen den Spiegel, gäbe es die Narben nicht. Aber ohne die Narben hätten Ben und er vermutlich niemals zueinander gefunden. Deshalb schätzte er sie auf eine seltsame Art und Weise.
Er löste seine Faust und warf einen Blick auf die lädierte Handinnenfläche. Mit seinem Zeigefinger fuhr er die einzelnen Narben nach und erinnerte sich dabei daran, wie Ben genau dasselbe auf dem Weg zur Eisbahn getan hatte. Dieser Gedanke verpasste ihm einen heißen Schauer.
Doch auch davon durfte er sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Deshalb senkte er seine Hand und starrte zurück in den Spiegel. Er starrte ohne zu blinzeln. So lange, bis das Spiegelbild vor ihm zu verschwimmen begann. Dabei wurde ihm
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