Sommermond
Ben tatsächlich hier war? Was, wenn all die Szenen, die gerade durch seinen Kopf jagten, tatsächlich stattgefunden hatten?
Schließlich zögerte er nicht länger und stürmte zum Fenster. Ein Blick auf die Einfahrt musste genügen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Entweder würde Bens Wagen vor der Garage stehen oder nicht.
Vor der Fensterbank blieb er noch einmal stehen und versuchte sich zu sammeln. Ein letztes Mal atmete er tief durch, bevor er sich auf dem Fensterbrett abstützte und langsam nach vorn beugte. Als er dann einen Blick nach unten wagte, blieb sein Herz stehen. Zumindest hatte er das Gefühl. Bens Auto parkte tatsächlich auf der Einfahrt. Doch nicht nur das. Direkt daneben stand Ben, stützte sich mit einer Hand am Wagen ab und machte Dehnübungen. Mit angewinkeltem Bein presste er seinen Fuß Richtung Hintern und lockerte ihn anschließend, indem er sein Bein leicht schüttelte.
Alex erstarrte. Er traute seinen Augen nicht. Die Feststellung, dass seine Erinnerungen nicht bloß einem Traum entstammten, war bitter. Bens Dasein jagte ihm Angst ein. Er hatte eine Abmachung mit dem Spanier, die beinhaltete, sich von Ben fernzuhalten. Der Spanier hatte ihm mehrfach damit gedroht, ihm oder Ben etwas anzutun, wenn er sich nicht an die Regeln hielt. Doch neben diesem Gefühl begründeter Angst breitete sich noch etwas anderes in ihm aus. Etwas wie Reue. Er fühlte sich miserabel, wenn er daran dachte, Ben nach der langen Zeit in einem derart berauschten Zustand begegnet zu sein. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie das Wiedersehen verlaufen war, oder daran, wie er sich verhalten hatte. Er hatte keine Ahnung, wie das Koks ihn verändert hatte. Lediglich ein paar schwache Erinnerungen ließen erahnen, wie überdreht er gewesen war. Dabei erinnerte er sich auch daran, wie das ganze Koks auf den Boden geraten war. Er glaubte, Ben damit beworfen zu haben. Warum, wusste er nicht. Vermutlich hatte er sich die ganze Zeit über lächerlich aufgeführt. Doch das war noch seine kleinste Sorge. Viel größer war die, dass - sollte er Ben tatsächlich mit den ganzen Beuteln beworfen haben - der Dunkelhaarige nun mehr wusste, als er wissen sollte. Was, wenn er Jo bereits involviert hatte? Oder Oberkommissar Wagner?
„Scheiße …“, murmelte Alex.
Er starrte zu Ben. So, wie er draußen stand und seine Dehnübungen machte, wirkte er nicht besonders gestresst oder besorgt. Das beruhigte ihn wieder. Das Dröhnen in seinem Kopf wurde trotzdem stärker. Er hasste sich dafür, gekokst zu haben – auch wenn er wusste, keine andere Wahl gehabt zu haben.
Warum musste Ben ausgerechnet jetzt auftauchen? Warum überhaupt?
Alex wurde schlecht. Er hatte keine Ahnung, was er im Rausch ausgeplaudert hatte. Vermutlich alles. Und selbst wenn nicht - schon ein Teil dessen wäre schlimm genug.
Ben sollte nicht hier sein und durfte auf keinen Fall erfahren, was in den letzten Monaten passiert war. Nicht jetzt, vor dem entscheidenden Deal. Bens Dasein drohte all das, wofür Alex gekämpft hatte, zu ruinieren. Ben gefährdete sein Leben, ohne es zu wissen.
Und als ob all das nicht genügte, um Alex‘ benommenen Verstand zu überfordern, kam noch eine ganz andere Sache hinzu. Nämlich die, dass er Bens Rückkehr nicht verarbeiten konnte. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder Ben verfluchen sollte.
Noch immer beobachtete er den Dunkelhaarigen. Ben winkelte seinen ausgestreckten Arm an, legte seine Hand an den Hinterkopf und drückte mit der freien Hand gegen den Ellenbogen. Das war eine der simpelsten Dehnübungen. Alex kannte sie noch aus der Schule. Offensichtlich wärmte Ben sich fürs Joggen auf. Genau wie damals - mit dem einzigen Unterschied, dass nun Sommer statt Winter war. Deshalb wirkte das Bild verfremdet, fast irreal. Der Dunkelhaarige trug eine kurze, schwarze Hose, darüber ein rotes Tanktop. Markante Muskeln glänzten unter sonnengebräunter Haut. Mit einer Coladose in der Hand wäre er glatt als Plagiat des bekannten Werbespotmodels durchgegangen.
Alex fand es merkwürdig, Ben nach all den Monaten wiederzusehen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Am liebsten hätte er sich mehr Gedanken darüber gemacht und wäre tiefer in sich gekehrt, doch sein starker Kopfschmerz hielt ihn davon ab. Er fühlte sich wie im Halbschlaf und hatte Probleme, die Realität für wirklich zu halten. Und so symbolisierte Ben für ihn plötzlich zwei vollkommen konträre Dinge: zum einen den Menschen, den er
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