Sommermond
diese neue Information, dass Ben bald fort sein würde, hatte ihn tief getroffen. Genau deshalb hatte er nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte und war vorerst aus dem Krankenhaus geflüchtet. Vermutlich war das ungerecht gegenüber Ben, doch er selbst war von Natur aus egoistisch.
Schon von weitem sah er die Einfahrt der Villa. Er blinkte rechts und fuhr vorsichtig auf das Grundstück. Weit kam er mit seinem Wagen nicht, da unmittelbar vor der Garage das Auto von Bens Eltern stand und die halbe Einfahrt blockierte.
Genervt stöhnte Alex auf, bevor er die Handbremse anzog und den Motor ausschaltete. Dann warf er einen kurzen Blick in den Innenspiegel seines Wagens und zupfte sich ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Er tat dies nicht unbedingt, um sein Äußeres aufzupeppen, sondern viel mehr, um mit dieser Geste in sein eigentliches Ich zurückzuschlüpfen. In jenem Moment brauchte er seine arrogante Ader, um erhaben über möglichen Kommentaren der Flensburger Sippe stehen zu können.
Schließlich schnallte er sich ab und stieg aus. Sofort versank er im aufgeweichten Schnee, der unter seinen Füßen nachgab wie eine dünne Eisfläche. Den Schlüsselbund behielt er in seiner rechten Hand und schritt Richtung Haustür. Dort fasste er nach dem Türknopf und schloss auf. Etwas zögerlich trat er ein und blieb einen Moment lang stocksteif stehen, bevor er die Tür hinter sich zuschob. Er ließ seinen Schlüsselbund auf die Kommode im Flur fallen und befreite sich aus Jacke und Schuhen. In der Villa roch es nach Essen. Jo schien irgendetwas Leckeres bestellt zu haben. Es duftete nach frischem Fleisch, nach Soße und Gemüse. Alex konnte nicht verhindern, dass sich sein Magen augenblicklich meldete. Das war ihm nicht zu verübeln, denn seine letzte Mahlzeit war schon eine ganze Weile her. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich erst einmal in sein Zimmer zurückzuziehen, eine Runde zu schlafen, sich später zu duschen und umzuziehen. Doch nun konnte er an nichts anderes als das Essen mehr denken. Der Geruch zog ihn magisch an und führte ihn wie von selbst bis zur Esszimmertür. Vor dieser blieb er jedoch erst einmal stehen und neigte seinen Kopf etwas nach vorn. Er versuchte zu lauschen, konnte aber keine genauen Worte verstehen. Das Einzige, was er hörte, waren all die unterschiedlichen Stimmen, die durch die Holztür sehr dumpf klangen. Im Grunde zwang ihn sein Verstand dazu, das Zimmer nicht zu betreten. Was sollte ihn dort auch erwarten? Nick und Bens Eltern konnten ihn nicht leiden und beharrten auf ihrer Argumentation, Alex für alles verantwortlich zu machen. Auch Jo war nicht unbedingt gut auf ihn zu sprechen, denn ihre gemeinsame Rückfahrt von der Polizeiwache war wieder einmal im Streit auseinandergegangen. Trotzdem streckte er seine Hand nach der Türklinke aus. Er wusste, dass er eigentlich kein Weichei war und solche Herausforderung mit Bravour meistern konnte. Im Normalfall spornten sie ihn sogar an, weil er es stets genoss, sich mit anderen Menschen auseinander zu setzen und sie mit seinen Kommentaren in den Wahnsinn zu treiben. Das war wie eine Art Kick, bei dem er seine eigenen Grenzen immer wieder aufs Neue überschritt und sich dabei nicht einmal schlecht fühlte.
Also drückte er die Türklinke hinunter und trat ein. Er blickte erst auf, nachdem er die Tür hinter sich zugedrückt hatte. An dem großen Tisch hatten sich tatsächlich alle versammelt und starrten ihn nun an, als wäre er ein neues Weltwunder. Keiner sagte etwas.
„Was?“, fragte Alex und tat gelassen. „Hat’s euch die Sprache verschlagen?“
„Nur den Appetit“, konterte Nick, schob sich samt Stuhl vom Tisch und stand auf. Er warf Alex einen missmutigen Blick zu und rempelte ihn grob an, bevor er ohne weitere Worte aus dem Zimmer verschwand.
Alex zuckte als Antwort mit den Schultern und trat an seinen Platz. Für ihn war jedoch nicht eingedeckt worden, weshalb er selbstständig zum Schrank schritt, um sich Teller und Besteck zu besorgen.
„Ich wusste nicht, dass du zum Essen kommst“, rechtfertigte sich Jo.
„Und ich wusste nicht, dass es Essen gibt“, gab Alex zurück.
Er nahm sich noch ein Glas und kehrte zum Tisch zurück. Bevor er sich setzte, platzierte er die Utensilien in präziser Ordnung an seinem Platz. Er war froh, dass Nick gegangen war, ließ sich dies allerdings nicht anmerken. Vermutlich war der Schwarzhaarige sauer, weil Ben mittlerweile vergeben war und deshalb nicht mehr auf seine verspäteten
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